Handwerker in der Region

Auf Kante genäht: Dieter Endreß ist Schneider mit Leib und Seele

16.3.2022, 06:00 Uhr
Auf Kante genäht: Dieter Endreß ist Schneider mit Leib und Seele

© Jasmin Kiendl

"Viskose", sagt Dieter Endreß. "Angenehm zum Tragen, aber zum Zuschneiden eine Katastrophe, zu wenig Stand." Der Schneidermeister blickt auf die erste Lage des Stoffes mit Leopardenmuster auf dem Tisch vor ihm und bringt sie mit seinem "Helferlein" in Form. Das "Helferlein" ist ein dünner Holzstab, an dessen Ende eine Nähmaschinennadel befestigt ist. Mit ihr kann Dieter Endreß den Stoff anspießen und ziehen. Ohne "Helferlein" könnte er mit den zwischen 1,40 und 1,50 Meter breiten Stoffen nicht alleine hantieren.

Die erste Lage Stoff wird glatt gestrichen, fixiert und abgeschnitten. Neun weitere Lagen folgen. Anschließend steckt der 58-Jährige das Schnittmuster auf. Die roten, grünen, blauen und grünen Köpfe der Nadeln schauen aus dem weißen Papier. Zum Schneiden greift Dieter Endreß zum Stoßmesser. Ein Gerät wie eine Stichsäge, das man eher in einer Schreinerei als in einer Schneiderei vermuten würde.

Konzentriert beginnt Dieter Endreß, die Teile, aus denen später einmal nach über 20 einzelnen Arbeitsschritten ein Kleid wird, auszuschneiden. Er unterbricht kurz, holt das Musterkleid und schaut nach einem Detail. Denn auf dem Schnittmuster befindet sich ein sehr kleiner Kreis. Der gehört dazu. "Fast übersehen", meint der 58-Jährige, schmunzelt und macht weiter. Zwischendurch wechselt er die Brille, um im Nahbereich besser sehen zu können.

Eine weitere Unterbrechung: Er muss Knopflöcher nähen. Sonst können seine Mitarbeiterinnen ein anderes Modell nicht weitermachen. Er befeuchtet einen gelben Stift mit Spucke, markiert mit ihm auf dem Stoff die Stellen für die Knopflöcher und saust dann zur Knopflochmaschine.

Im Jahr 2000 hat Dieter Endreß den Familienbetrieb von seinem Vater übernommen. Gegründet wurde die Schneiderei mit Sitz im 2400-Einwohner-Ort Dentlein am Forst (Landkreis Ansbach) 1927. Fortgesetzt wird die Tradition nicht. Keines der vier Kinder von Carola und Dieter Endreß hat Interesse.

Geld verdient Dieter Endreß mit "industrieller Fertigung". Aber: "Es ist ein Auf und Ab." Die zehn Kleider mit Leopardenmuster beispielsweise werden im Auftrag von "Betty Barclay" genäht. Es sind Modelle, mit denen die neue Kollektion beworben werden soll. "Das sind die Krümel, die für uns abfallen", erklärt der 58-Jährige. Ansonsten lasse das Unternehmen in Asien produzieren. Doch für diese Mustermodelle wäre die Lieferzeit von dort zu lang. Auch Dieter Endreß und sein Team haben Termindruck. Es kann vorkommen, dass sie innerhalb von zwei oder drei Tagen liefern sollen, was nicht immer zu schaffen ist. "Wir liefern dann eben statt zwölf erst mal nur sieben Modelle", erzählt der Schneidermeister.

Ihre vier Mitarbeiterinnen setzen Dieter Endreß und seine Frau Carola effektiv ein: "Jede macht das, was sie am besten kann." Ein Rädchen greift ins andere. Unterhalten wird sich während der Arbeit nicht viel. Wenn, geht es um Fachliches. Der Raum ist erfüllt vom Zischen des Bügeleisens und der Geräuschkulisse der Nähmaschinen. Ein leises, angenehmes Surren oder ein lautes, kurzes Rattern. Dazwischen Wort- oder Musikfetzen aus dem Radio.

An der Decke sind Leisten mit Steckdosen angebracht, die Kabel der Maschinen baumeln herab. Neben fast jeden Arbeitsplatz hängt außerdem eine "Kleiderstange", zwei Schnüre halten eine Holzstange. An einer ein Kleiderbügel mit einer ärmellosen Weste. Es ist eine besondere Weste. "Eine gegen Schnarchen", so Carola Endreß. Ein Schaumstoffkeil, der in eine Öffnung auf der Rückseite geschoben werden kann, verhindert, dass der Träger sich im Schlaf auf den Rücken dreht. Die Idee dazu hatte sich ein Privatmann patentieren lassen. Das Patent lief jetzt aus und die Endreß‘ haben ein Jahr lang bei der Entwicklung eines neuen Modells mitgetüftelt. "Mehr Tragekomfort und luftdurchlässig", sagt Carola Endreß.

Vor zehn Jahren hat Dieter Endreß damit begonnen sich unabhängiger von der Modebranche mit ihren Unwägbarkeiten zu machen. Er ist auf die Suche gegangen, "was man alles nähen kann". Bei der Recherche im Internet ist er dann auf die Firma Ortlieb mit Sitz in Heilbronn gestoßen, die Fahrradtaschen herstellt. Eine erste Anfrage sei erfolglos gewesen, erzählt Dieter Endreß. Aber er sei hartnäckig geblieben. Und das zahlte sich aus.

Genäht werden jetzt Teile von Taschen und vor allem Verschlüsse an Bänder. In der Schneiderei und vor allem in der Garage stehen Kartons mit unendlich vielen Verschluss-Modellen. Rechnen tut sich das Ganze über die Menge. Zehntausende Verschlüsse werden im Monat an Bänder "geriegelt". Aber auch Überzüge für Schaltknüppel oder für Sitze von Schneeraupen werden in der Schneiderei angefertigt. Sie ist ebenso Anlaufstelle für Leute, die Kleidungsstücke zum Ändern oder Ausbessern haben.

Wirklich höher schlägt Dieter Endreß‘ Schneiderherz jedoch bei Maßanfertigungen. Von denen er leider nicht so viele nähen kann. Zu zeitaufwendig. Und über die Runden käme er damit nicht. Viele Kundeninnen und Kunden hätten eine falsche Vorstellung, was den Preis betrifft, meint Dieter Endreß. Die sähen nur, wie billig eine Tracht oder ein Brautkleid im Internet zu haben sei. Der Schneidermeister erzählt von Brautkleidern, die er schon genäht hat – darunter eines mit offenem Rücken und eines im Mittelalterstil.

Vor der Corona-Pandemie hat es Jahre gegeben, da hat er 180 Festdamen ausgestattet. Jedes Kleid ein Unikat. Eine Schneiderpuppe trägt ein Mieder, das darauf wartet von der Kundin abgeholt zu werden. "Das Schönste ist, wenn die Kundin es anprobiert und es einfach passt", sagt Dieter Endreß.

Weitere Folgen aus der Handwerkerserie: Die Flechterin - Der Glasmacher - Der Käseveredeler oder Affineur - Der Kuttler - Der Instrumentenbauer - Die Porzellanmalerin - Der Schneider

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