Vollelektrische Studie im 3er-Format
Neue Klasse von BMW: Blick nach vorn – aber auch zurück
6.9.2023, 15:22 Uhr"Alles, was irgendwie auf dem weitläufigen Ausstellungsareal zu tun hatte, fühlte sich hingezogen zu dem Stand der Bayerischen Motoren Werke", rekapituliert eine große deutsche Illustrierte in ihrer IAA-Berichterstattung. Besucher, die einen Blick auf das schicke Mittelklassemodell werfen oder gar die Möglichkeit zu einer Sitzprobe ergattern wollen, müssen eine halbe Stunde lang Schlange stehen. Was für ein Andrang!
So geht es also zu auf der IAA Mobility 2023 in München, wo BMW noch bis zum 10. September ein Heimspiel hat? Nein. Das geschilderte Szenario bezieht sich auf die IAA 1961, die damals noch in Frankfurt stattfand. Schon da stellte BMW eine Neue Klasse vor, und auch sie sollte für das Unternehmen das werden, was man heute einen "Gamechanger" nennt.
Bedingt durch ernsthafte Absatzprobleme war BMW Ende der 1950er-Jahre vor der Pleite gestanden, die Übernahme durch die Daimler-Benz AG schien bereits besiegelt. Erst in letzter Minute konnte der Verkauf noch abgewendet werden, und Großaktionär Herbert Quandt bekam die Chance, einen groß angelegten Sanierungsplan umzusetzen. Zurück auf Erfolgskurs führte zunächst der Kleinwagen BMW 700, zum endgültigen "Rettungswagen" wurde aber der BMW 1500, das erste Modell eben der Neuen Klasse.
Das Auto kam zur rechten Zeit. Mit steigendem Wohlstand hatten sich die Wünsche der Automobilkunden von Kleinwagen wie der Isetta weg hin zur Mittelklasse verlagert. Der komplett neu entwickelte 1500er schloss die Lücke zwischen dem BMW 700 und den "Barockengeln", wie die großen Achtzylinder-Limousinen genannt wurden.
Traumwagen mit 75 PS
Einer flachen Tafel unter der vorderen Stoßstange konnten die rund 950.000 Besucher der IAA 1961 die technischen Daten des "Mittelklasse-Traumwagens" entnehmen: 1,5-l-Vierzylinder-Reihenmotor mit 75 PS bei 5500 Umdrehungen, Federbeinachse vorn, schrägstehende Längslenker hinten, Scheibenbremsen vorn, Höchstgeschwindigkeit 150 km/h, Gewicht (betankt) ca. 950 Kilogramm. Beim späteren Serienmodell erhöhte sich die Leistung auf 80 PS, der Sprint von 0 auf 100 km/h erfolgte in 16,8 Sekunden, der Verbrauch wurde mit neun bis zehn Litern angegeben.
Gut 60 Jahre später stellt der heutige BMW-Chef Oliver Zipse wieder eine Neue Klasse vor, und wieder ist eine IAA die Bühne. Die wirtschaftliche Ausgangslage stellt sich 2023 zwar ungleich besser dar. Dennoch hat das Modell ganz wie einst eine entscheidende Bedeutung für das bayerische Unternehmen, denn es gilt, den Erfolg auch im elektrischen Zeitalter beizubehalten.
Milliardenschweres Investment
"Mit der Neuen Klasse haben wir das größte Investment in der Unternehmensgeschichte gestartet", sagt BMW-Entwicklungschef Frank Weber, es geht wohl um eine zweistellige Milliardeninvestition. Man schreibe "nicht nur das nächste Kapitel von BMW", erklärt Weber, "sondern ein neues Buch". Die Neue Klasse werde "alle Modellgenerationen durchdringen".
Gilt der 1500er als Vorläufer der BMW 5er-Reihe, markiert die Neue Klasse 2023 – wenn man so will – eher die Transformation des 3ers ins Elektrische. Unübersehbar ist aber, dass der 1500er das leicht "retro" angehauchte Design der IAA-Studie inspiriert hat. Ruhig und reduziert sieht die Neue Klasse aus, mit Kamera-Außenspiegeln und großen, glatten Flächen, die nur von wenigen Sicken und Kanten durchbrochen werden und auf auffälligen Chrom-Zierrat verzichten.
Mit "Hofmeister-Knick"
Die hinteren Seitenscheiben münden mit dem typischen "Hofmeister-Knick" in die C-Säulen, eine Hommage an den legendären BMW-Chefstylisten Wilhelm Hofmeister, der den 1500er seinerzeit entworfen hatte. Hofmeisters Erbe Adrian van Hooydonk hat zudem das zuletzt ausufernden Größenwachstum der BMW-Niere beendet und sie stattdessen dezent flach in die Front des Showcars integriert.
Im Gegensatz zur Karosserie könnte das lederfreie und chromdeko-befreite Interieur nicht weiter von Retro-Anmutung entfernt sein. Mithilfe der "Panoramic Vision"-Technik wird nahezu die gesamte Breite des unteren Windschutzscheiben-Bereichs zum Head-up-Display (HUD), ein Fahrerinstrumentarium gibt es überhaupt nicht mehr, einsam thront der Zentralbildschirm auf dem Armaturenträger, die Inhalte können mit einer einfachen Geste auf das Panoramic-Vision-HUD verschoben werden. Dazu gibt es eine frei schwebende Mittelkonsole und vier ziemlich spacig aussehende Einzelsitze.
Die elektrische Antriebstechnik ist insofern ein großer Sprung, als dass anstelle prismatisch-eckige Zellen nunmehr runde Batteriezellen zum Einsatz gelangen, die eine 20 Prozent höhere Energiedichte aufweisen. Gleichzeitig sollen Reichweite und Ladegeschwindigkeit um bis zu 30 Prozent steigen, der Umstieg von der 400-Volt-Ladetechnik auf 800 Volt könnte die Schnellladeleistung auf rund 260 kW befördern.
Eigentlich war BMW schon viel früher in die elektrische Ära aufgebrochen als andere. "Ganz schön mutig, was BMW da macht", schrieben wir im Jahr 2013 über den stromernden Pionier i3, "so grundlegend und allumfassend ist bislang kein anderer Großserienhersteller das Thema Elektromobilität angegangen". Wahrscheinlich war der leicht skurril gestylte Kleinwagen mit seiner aus teurem carbonfaserverstärktem Kunststoff gefertigten Ultraleicht-Karosserie seiner Zeit aber noch voraus, im Juli 2022 wurde die Produktion des i3 eingestellt.
Immer wieder musste sich BMW in den vergangenen Jahren vorwerfen lassen, dem Trend zur E-Mobilität nicht angemessen nachzukommen. BMW-Chef Oliver Zipse hatte sich gar den Ruf eines Bremsers erarbeitet. "Ich halte die politische Vorgabe zum Verbrenner-Aus für fahrlässig", ließ er erst dieser Tage das "Handelsblatt" wissen.
BMW fährt zweigleisig
Tatsächlich aber verfolgt das Unternehmen eine zweigleisige Strategie, die sich als schlau erweisen und bezahlt machen könnte. Erstens, weil die Bayern inmitten eines zunehmend verknappten Verbrenner-Angebots lukrativerweise noch zu liefern imstande sind und zweitens, weil just diese Benziner und Diesel das Geld einfahren, mit sich die Entwicklung neuer Elektroautos kommod finanzieren lassen.
Und wann kommt sie nun, die neue Neue Klasse? Ab 2025 sollen die ersten vollelektrischen Modelle dieser Bauart im ungarischen Debrecen produziert werden, später dann auch in München, China und Mexiko. Den Anfang macht allerdings nicht die Limousine, sondern ein SUV. Das hatte es zu Zeiten des 1500ers noch nicht gegeben.
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