Wie aus einem Adventskalender schauen die Bewohner des Hauses Helmstraße 51 (jetzt Franzstraße 8) 1915 dem Fotografen entgegen. Im Januar 2020 lag Schnee in der Helmstraße und auf dem Nachkriegsneubau des Eckhauses, während nebenan die Bauarbeiten für eine neue Eigentumswohnanlage auf Hochtouren liefen.
© unbekannt, Sebastian Gulden
Wie aus einem Adventskalender schauen die Bewohner des Hauses Helmstraße 51 (jetzt Franzstraße 8) 1915 dem Fotografen entgegen. Im Januar 2020 lag Schnee in der Helmstraße und auf dem Nachkriegsneubau des Eckhauses, während nebenan die Bauarbeiten für eine neue Eigentumswohnanlage auf Hochtouren liefen.

Wo geht‘s nach "Neu-Wetzendorf"?

Wie der Name eines In-Viertels einen Nürnberger Stadtteil verschwinden lässt

Obschon seit Jahrzehnten mit der Nürnberger Kernstadt verwachsen, hat sich Wetzendorf einen eigenständigen Charakter bewahren können. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der alte Ortskern des Straßendorfes – von der ein oder anderen Bau- und Sanierungssünde abgesehen – noch weitgehend intakt ist.

Kaum jemandem ist bewusst, dass Wetzendorf bei seiner Eingemeindung nach Nürnberg 1899 viel weiter gen Südosten reichte: Wie bei vielen Orten am Rande der Metropole hatte sich direkt an der Gemeindegrenze nach Mitte des 19. Jahrhunderts eine Vorortsiedlung gebildet, die so gar nichts mit dem ländlichen Charakter des Altorts zu tun hatte, sondern vielmehr eine Fortsetzung der Stadt und ihrer Strukturen war. Verheißungsvoll war denn auch der Name dieses großstädtischen Stücks Knoblauchsland: Neu-Wezendorf (das "t" kam erst später dazu). Diese Bezeichnung ist heute nahezu völlig vergessen; nur der Name der Gemarkung Wetzendorf ist geblieben. Der Flurname "Sandberg" hat sie ab den 1920er Jahren nahezu völlig verdrängt, der 1972 dem Verkehr übergebene Nordwestring hat die Trennung von der einstigen Muttergemeinde nachhaltig zementiert – oder eher: asphaltiert. Bewohner und Immobilienverkäufer schlagen das Quartier heute zumeist dem beliebten St. Johannis zu. Fühlt sich ja auch ganz gut an in Nürnbergs In-Viertel schlechthin zu leben – und im Immobiliengeschäft bringt es bares Geld.

Als das Eckhaus Franzstraße 8 im Jahre 1883 erbaut wurde, hatte es noch die Anschrift "Wezendorf 144". Die Adressierung folgte dem Anfang des 19. Jahrhunderts in Bayern eingeführten Konskriptionssystem, bei dem die bestehenden Anwesen vom Ortskern aus im Uhrzeigersinn durchnummeriert wurden. Danach wurden die Nummern nach Baujahr vergeben – was Fremden die Orientierung nicht eben erleichterte. Kurz vor der Eingemeindung erhielt es die neue Anschrift Wilhelmstraße 51, was die Stadt Nürnberg anno 1900 schon wieder in Helmstraße 51 ändern musste: Denn blöderweise gab es in Gibitzenhof, das ebenfalls 1899 eingemeindet wurde, schon eine Wilhelmstraße!

Typische Architektur der Wiederaufbaujahre

Ein gewisser Johann Schneider errichtete das Haus im eigenen Auftrag und eigener Planung als zweigeschossigen Bau mit Sandsteinfassaden gegen die Franz- und Helmstraße nebst modischer Neorenaissance-Gliederung und einem verschieferten Mansarddach mit dekorativen Giebelgauben. Unsere alte Fotokarte entstand 1915, als Georg Kaspar aus Lauf, der das Haus zwischenzeitlich erworben hatte, im Erdgeschoss eine Herrenschneiderei betrieb. Beschrieben und verschickt hat sie die Schneidersgattin Münzel, die mit ihrem Mann Johann im Hinterhaus wohnte, an ihre erwachsene Tochter Gretchen. Das Rückgebäude stand mit einer Schmalseite parallel zur Franzstraße, die bis zu ihrem Ausbau nach dem Zweiten Weltkrieg jenseits des Grundstücks an einem Feldrain endete.

Wie viele seiner Berufskollegen ließ auch Architekt Egmont Ros seinen Namen und das Jahr der Fertigstellung in Form eines Werksteinreliefs an der Fassade verewigen.

Wie viele seiner Berufskollegen ließ auch Architekt Egmont Ros seinen Namen und das Jahr der Fertigstellung in Form eines Werksteinreliefs an der Fassade verewigen. © Sebastian Gulden

1945 wurden Vorderhaus und Rückgebäude total zerstört. Beim Neubau 1951-52 griff Architekt Egmont Ros die charakteristische Baulinie mit Abschrägung an der Kreuzung wieder auf, spendierte dem auch in der Fläche merklich vergrößerten Gebäude aber ein zusätzliches Vollgeschoss. Ebene Fassaden mit Kellenstrichputz, Faschen um die Fenster und einem Hausportal aus Kunststein haben den üppigen klassizistischen Dekor von einst abgelöst. Das bestehende Haus ist typische Architektur der Wiederaufbaujahre, vielleicht kein Baudenkmal, aber in jedem Falle erhaltenswert als beredtes Zeugnis seiner Zeit. Mit der Verlegung des Hauseingangs an die Franzstraße erhielt das Anwesen seine neue Adresse Franzstraße 8.

So ist also unser Vorstadtmietshaus nach dem Krieg wiederauferstanden. Ob auch der Name "Neu-Wetzendorf" wiederauferstehen wird? Vermutlich nicht. Auch die Bauunternehmung, die kürzlich auf dem Nachbargrundstück Helmstraße 53 eine Eigentumswohnanlage errichtet hat, hat‘s nicht überrissen: Der Name Johannis bringt halt bares Geld. Schade eigentlich, klingt "Neu-Wetzendorf" doch irgendwie wie ein mondäner Wiener Gemeindebezirk. Und von Wien kann sich Nürnberg in manchen Dingen eine Scheibe abschneiden.

Derweil läuft die Zerstörung der historischen Vorstadt unter dem Deckmantel des Nürnberger In-Viertels weiter: Im Oktober 2024 schloss die beliebte Kneipe "Paradies" in der Poppenreuther Straße 21. Ihr Gebäude, ebenfalls noch vor der Eingemeindung entstanden und anschaulich im alten Zustand erhalten, soll dieses Jahr für das Projekt "Johannis21" fallen, das sich laut Entwickler Wertbau "harmonisch in das gepflegte Straßenbild" einfügen soll. Na dann…

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Diese Serie lädt zum Mitmachen ein. Haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus Nürnberg und der Region? Dann schicken Sie sie uns bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Nachrichten/Nürnberger Zeitung, Lokalredaktion, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: redaktion-nuernberg@vnp.de. Noch viel mehr Artikel des Projekts "Nürnberg – Stadtbild im Wandel" mit spannenden Ansichten der Stadt und Hintergründen finden Sie unter www.nuernberg-und-so.de/thema/stadtbild-im-Wandel oder www.facebook.com/nuernberg.stadtbildimwandel

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