Geschichtsstunde im Bethelsaal

„Jud Süß“: Warum die Stadt Gunzenhausen einen Propagandafilm der Nazis aufführte

Jürgen Eisenbrand

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15.11.2024, 11:00 Uhr
Szenenfoto aus "Jud Süß" mit Kristina Söderbaum und Ferdinand Marian in der Titelrolle.

© ZDF/Verleih Szenenfoto aus "Jud Süß" mit Kristina Söderbaum und Ferdinand Marian in der Titelrolle.

Der Spielfilm "Jud Süß" ist ein negativer Mythos. Seit der Befreiung durch die Alliierten 1945 liegt er im Giftschrank der Geschichte, bei der Friedrich-Murnau-Stiftung in Wiesbaden. Das Verbot, ihn unkommentiert öffentlich aufzuführen, hält seinen zweifelhaften Ruf am Leben. In Gunzenhausen wurde der NS-Propagandastreifen nun - inklusive historischer Einordnung und Podiumsdiskussion - gezeigt.

"Zur vorbildlichen Erinnerungskultur der Stadt Gunzenhausen gehört maßgeblich die kritische Auseinandersetzung mit dem Unaussprechlichen", heißt es in einer Pressmitteilung der Stadt Gunzenhausen, die den sogenannten "Vorbehaltsfilm" im gut besuchten Bethelsaal der Hensoltshöhe zeigte - leider in höchst unbefriedigender Tonqualität.

"Hardcore-Propaganda, die damals als solche nicht klar zu erkennen war"

"Die hässliche Fratze des Nationalsozialismus ist zurück." Harte Worte, mit denen der Historiker Dr. Thomas Greif den Abend eröffnete. Vieles, was lange Zeit tabu war, "ist längst wieder mehrheitsfähig", so die Mitteilung aus dem Rathaus: "So ist die rüde Sprache zurück, das Denunziantentum, das Spielen mit Ressentiments gegenüber Fremden."

Das Gespräch zum Film: Podiumsdiskussion mit den Hirstorikern Thomas Greif, Katrin Kasparek, Andrea Erkenbrecher, Stadtarchivar Werner Mühlhäußer und Moderatorin Birte Montasseri.

Das Gespräch zum Film: Podiumsdiskussion mit den Hirstorikern Thomas Greif, Katrin Kasparek, Andrea Erkenbrecher, Stadtarchivar Werner Mühlhäußer und Moderatorin Birte Montasseri. © Teresa Biswanger/Stadt Gunzenhau

Doch es steckten immer Menschen hinter den Abgründen, diese gelte es zu bilden und den Hass aus ihren Köpfen zu vertreiben. Für Greif, Autor des Buches "Frankens braune Wallfahrt. Der Hesselberg im Dritten Reich", ist "Jud Süß" eine "Hardcore-Propaganda, die damals als solche nicht klar zu erkennen war". Verpackt in die vermeintlich unschuldige Form eines opulenten und unterhaltsamen Historienfilms, bereiteten Filme wie dieser den Holocaust mit vor, so der Historiker.

Damals kam es zu Demonstrationen gegen jüdische Bevölkerung während der Vorstellung

Zentrales Element der Handlung war die von den Nazis geächtete "Blutschande", für die auch die bewusst zwielichtig inszenierte Hauptfigur Oppenheimer am Ende mit dem Tode bestraft wird. So wurde 1940, als der Streifen in die Kinos kam, antijüdischer Groll angefacht, der sich "während diverser Kinovorführungen in spontanen Demonstrationen gegen die jüdische Bevölkerung entlud", heißt es weiter.

Wer heute den Film sieht, bleibt ratlos und schockiert zurück. Ein Wortbeitrag während der anschließenden Diskussion fasste es gut zusammen: "Juden wurden dämonisiert und Vorurteile mit der Holzkeule in die Köpfe geschlagen."

Damals wurde der Propagandastreifen im Schatten des Angriffskriegs auf Polen lanciert, die Menschen sollten emotional auf den von den Nazis verharmlosend "Endlösung" genannten Völkermord an den Juden vorbereitet werden.

Wie perfide und geschickt die menschenverachtende Botschaft verpackt wurde, zeigten mehrere Aussagen, wonach Zuschauer - gleichsam gegen ihren erklärten Willen - von den negativen Emotionen des Films berührt wurden: "Ich musste mich selbst praktisch wieder zur Ordnung rufen", bekannte ein Zuschauer.

Geschichtsvergessenheit bedroht unsere Demokratie, sagt Gunzenhausens Bürgermeister

Umso wichtiger sei es, dass Vorbehaltsfilme heute gezeigt werden dürfen, heißt es aus dem Rathaus. Nur so gelinge eine kritische Auseinandersetzung: "Die Geschichtsvergessenheit ist ein Problem unserer Zeit und bedroht massiv unsere Demokratie", sagte dazu Bürgermeister Karl-Heinz Fitz. "Insbesondere Jugendlichen sollten wir mit Angeboten wie diesem helfen, sich selbst eine Meinung zu bilden und Widersprüche kritisch zu hinterfragen." Reine Verbote steigerten lediglich die Neugier.

Stadtarchivar Werner Mühlhäußer hatte im Vorfeld zum Film geforscht. "Jud Süß" war dembach 1940 in Gunzenhausen der erfolgreichste Film des Jahres. Fast 2000 Eintrittskarten wurden verkauft, rund 400 davon gingen an Jugendliche. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels setzte mit diesem Streifen auch auf die Popularität bekannter Schauspieler wie Kristina Söderbaum, Werner Krauß oder Heinrich George.

Zerrbilder, die sich bis in die heutige Zeit halten

Radio 8-Moderatorin Birte Montasseri leitete die Podiumsdiskussion und stellte den historischen Widerspruch heraus, mit dem jüdisches Leben im "Dritten Reich" ständig konfrontiert wurde. Zahlreiche, vor allem durch die Nationalsozialisten manifestierte Bilder, etwa das des Geldjuden, sind demnach reine Zerrbilder, die sich hartnäckig bis in die heutige Zeit halten.

Die Historikerin Andrea Erkenbrecher sagte, eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob man Machwerke wie "Jud Süß" aufführen solle, könne es nicht geben. Denn obwohl Aufklärung im Vordergrund stehe, transportierten die Leinwandbilder auch Vorurteile. Wer Antisemitismus vorbeugen wolle, müsse Bildung bieten und den Austausch fördern.

Umso wichtiger seien die Bemühungen, die die Stadt Gunzenhausen seit vielen Jahren auszeichnen. So gehe die deutsch-jüdische Dialoggruppe den Weg der Annäherung, dazu finde ein Austausch zwischen jungen Menschen aus Gunzenhausen und Israel statt. "Wir wollen ins Gespräch kommen, denn wer jüdische Menschen kennt, der weiß, dass die ganzen Vorurteile großer Humbug sind", betonte Rathaus-Chef Fitz.

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