Verklärung Russlands
Warum ticken viele „Ossis“ so anders? Die alte, neue deutsche Spaltung fordert die Politik heraus
In Leipzig wird Rod Stewart ausgebuht, weil er Putin wegen seines Angriffs auf die Ukraine kritisiert. In Thüringen kommt eine Umfrage auf 49 Prozent für die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht - zwei Parteien, die Russland und anderen Autokratien eher unkritisch gegenüberstehen.
Warum ticken "die Ossis" so ganz anders als "wir Wessis"? Zunächst mal: Auch in den ostdeutschen Bundesländern sind die Unterstützer von AfD und BSW immer noch in der Minderheit. Allerdings verfestigt sich der Trend zu Parteien, die sich ganz bewusst außerhalb des "Systems" - wie sie abwertend sagen - positionieren.
Der 17. Juni 1953 - leider für viele kein Datum mehr
Ein entscheidender Punkt ist dabei der Umgang mit Putins Russland. Und da erstaunt die Milde, mit der viele Ostdeutsche auf Moskau blicken. Vor ein paar Tagen stand der 17. Juni im Kalender - ein Datum, mit dem viele nichts mehr verbinden dürften, das aber im Westen lange ein Feiertag war: der Tag der deutschen Einheit.
Am 17. Juni 1953 stoppten sowjetische Panzer den Aufstand von Arbeitern in der DDR. Aus einem Protest gegen Normerhöhungen hatte sich eine Massenbewegung gegen das verhasste SED-Regime entwickelt - so gefährlich für die DDR-Regierenden, dass Moskau seinem Satellitenstaat zur Hilfe eilte und das Regime mit brutaler Gewalt rettete.
Blaupause für weitere Militäreinsätze
Das war nicht nur die Blaupause für weitere Militäreinsätze, mit denen die Sowjets Freiheitsbewegungen im "Ostblock" niederwalzten - den ungarischen Aufstands-Versuch 1956, den Prager Frühling 1968 und die polnische Solidarnosc-Bewegung 1980. Es war auch der Start für den systematischen Ausbau der SED-Diktatur. Der Mauerbau 1961 machte einen Staat zum Gefängnis, Fluchtversuche endeten tödlich. Wer gegen das System war, musste sich hüten, wurde schikaniert oder verfolgt, hatte keine Aufstiegs-Chance.
Alles vergessen? Der Mensch erinnert sich - zum Glück - weit mehr an Schönes als an Schlimmes. Aber wenn nun nicht wenige, die diese alte DDR erlebten, allen Ernstes behaupten, die Bundesrepublik entwickle sich zu einer neuen DDR, dann zeigt das eine dramatische Verharmlosung einer Diktatur.
Andere Ex-Ostblock-Staaten blicken kritisch auf Moskau
Interessant, dass alle anderen ehemaligen Sowjet-Satelliten sehr kritisch auf Putins Russland blicken. Die Polen vor allem, aber auch die baltischen Staaten, die - wie auch die DDR - erleben mussten, was es heißt, unter Moskaus Knute zu leben. Nur im Osten Deutschlands gedeiht jene Verklärung Russlands, die auch Wahlergebnisse prägt.
Friedenssehnsucht ist nur zu verständlich. Ein gutes Verhältnis zu Moskau wäre gewiss wünschenswert. Aber: Wie soll das gehen mit einem Regime, das auf vielen Ebenen Krieg führt gegen den Westen? Auch mit Propaganda, die eben diesem Westen die Schuld für die aktuelle Entwicklung zuweist - mit, siehe Ostdeutschland, alarmierendem Erfolg?
Rund ein Drittel der Menschen im Osten denkt offensichtlich anders - nationaler, autokratischer, weniger liberal. Auf Dauer ein prekärer Zustand.
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