Rund um die Martin-Richter-Straße
Herbe Schönheit aus den Nachkriegsjahren: Eine Häusergeschichte aus Nürnberg-Rennweg
13.9.2022, 11:02 Uhr"Wie sah’s hier früher aus?" Die Initiative "Nürnberg – Stadtbild im Wandel" bekommt diese Frage wiederkehrend gestellt. Und kann sie oft nicht beantworten. Doch dann gibt es wieder Glücksfälle: zum Beispiel die Eingängigkeit eines Fotos aus dem Stadtteil Rennweg.
Als wir im Jahr 2021 einen Artikel über kriegsversehrte Häuser in Nürnberg veröffentlichten, erregte ein "Quasimodo des Stadtbildes" besondere Aufmerksamkeit – und warf eben diese Frage auf: das Mietshaus Martin-Richter-Straße 26 im Stadtteil Rennweg, was war mit ihm? Nach einem schweren Bombenschaden im Zweiten Weltkrieg hat man den Bau, ganz im Unterschied zum Großteil der beschädigten Nürnberger Altbauten, mit viel Improvisationsgeist und weitgehend ohne das unselige Abmeißeln des erhaltenen Fassadenschmucks wieder bewohnbar gemacht.
Dem Nürnberger Fotografen und Maler Heinrich Nüßlein verdanken wir nun die Antwort auf die Frage: Wie sah eben dieses Haus aus, bevor die Bomben fielen? Nüßlein nämlich stellte um 1905 seine Kamera an der Kreuzung der Martin-Richter- mit der Ludwig-Feuerbach-Straße auf und rückte das prächtige Eckhaus in den Fokus: Mit seinen vier Vollgeschossen mit Mauerwerk und Fassadengliederung aus weißgrauem Mainsandstein überragte es die Häuser in seinem Umfeld. Zusätzlich betonte ein leicht gebauchtes Zeltdach mit Plattform, Ziergitter und üppig verziertem Sockel die Eckzone.
Erstbebauung in neuer Straße
Während die üppige Gestaltung in Formen der Neorenaissance und des Neubarock im Nürnberg des Historismus zum Standard-Repertoire der Baumeister gehörte, waren und sind die Balkone zur Straße mit kunstvollen Geländern eine Ausnahmeerscheinung in einer Zeit, da die meisten Menschen den Freisitz an der Wohnung nicht zum stundenlangen Faulenzen an der Sonne nutzten (sondern zum Blumenzüchten, Wäschetrocknen und bestenfalls für einen kurzes Intermezzo an der frischen Luft).
Erbaut hat die kleine Vorstadtperle ein gewisser Lorenz Michel im Jahre 1887, nur zwei Jahre, nachdem er sich als Maurermeister selbstständig gemacht hatte und ebenfalls nur zwei Jahre nach Fertigstellung der Martin-Richter-Straße. Bald darauf ging es in den Besitz des Johann Bingold über. Der war höchstwahrscheinlich Co-Finanzier des Bauprojekts, tritt er doch 1888 mit Michel als Eigentümer eines Hauses in Steinbühl in Erscheinung. Der Kaufmann nutzte das Erdgeschoss zeitweise selbst als Ladenlokal und Privatwohnung. Die übrigen fünf Wohneinheiten belegten damals Familien der Mittelschicht, darunter ein Tüncher, ein Schuhmacher, ein Lithograf und eine Näherin.
Just 1888 bekam der kleine Palast Gesellschaft in Gestalt des Hauses Martin-Richter-Straße 23, das Nüßlein in seinem Motiv rechts anschnitt. Der im Viertel vielbeschäftigte Baumeister Adam Winkelmann hat es im Nürnberger Stil mit Elementen der Spätgotik und Renaissance geplant. Wie die 1892 errichtete Nr. 28 (links vorne angeschnitten) beherbergte das Erdgeschoss eine Gastwirtschaft. Im selben Jahr vervollständigte Baumeister Johann Landgraf das Ensemble mit dem Doppelhaus Ludwig-Feuerbach-Straße 17/19 (links neben der Martin-Richter-Straße 26). Sein Entwurf ist im Vergleich zu den anderen Bauten an der Kreuzung eher Hausmannskost mit Klinkerfassade und klassizistischer Gliederung aus Sandstein. Die trotz des aufwändigen Gesimses etwas tumbe Aufstockung, die das einstige Mansarddach abgelöst hat, stammt vermutlich aus der Zeit des Wiederaufbaus.
Hunger nach Betongold
An die Stelle der Baukunst des Historismus trat nach 1945 die des Wiederaufbaus, der sich leider in dieser Ecke nicht gerade mit Kreativität überschlug. Immerhin: Die Eingänge der Wohnanlage Ludwig-Feuerbach-Straße 26 und 28, erbaut um 1960 durch die Bauunternehmung Karl Schick, verschönerte ein anonymer Künstler mit Kratzputzbildern (Sgraffiti), die Haushaltsgeräte und Sinnbilder des Bauhandwerks zeigen.
Tatsächlich blieb die Nr. 26 nicht das einzige Haus an der Martin-Richter-Straße, das ihre Eigentümer auch in den Jahren des Wirtschaftswunders in dem mehr oder minder behelfsmäßigen Zustand der ersten Wiederaufbauphase beließen: So ist das Eckhaus Nr. 16 mit der früheren Gaststätte "Wundersgärtla" der Stumpf eines Neorenaissance-Mietshauses, an dessen einst reiche Ausstattung noch die originale Haustür erinnert. Die Nr. 19 ist die überlebende Hälfte eines Häuserpaares von 1887, nach dem Krieg mit einem Notdach beschirmt.
Ob man dem Improvisationsgeist der Kriegsgeneration nun etwas abgewinnen kann oder nicht: Häuser wie die Martin-Richter-Straße 16, 19 und 26 erzählen die Geschichte von Krieg und Wiederaufbau im Stadtbild so anschaulich wie nichts sonst. Im Falle der Nr. 16 allerdings nicht mehr lange, denn das Haus soll bald einem mehrgeschossigen Neubau ohne jedweden Bezug auf die bauliche Umgebung weichen. Und auch bei der Nr. 19 ist ein Totalverlust zu Gunsten einer kräftigen Nachverdichtung nicht ausgeschlossen.
Was der Krieg und die Sorglosigkeit der Nachkriegszeit nicht vernichtet haben, besorgt nun, wie es schreibt, der Hunger nach Betongold. Ob wenigstens die Martin-Richter-Straße 26 verschont bleiben wird? Nicht nur Baumeister Michel und Fotograf Nüßlein würd’s freuen.
Liebe Leser, haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus Nürnberg und der Region? Dann schicken Sie sie uns bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Nachrichten/Nürnberger Zeitung, Lokalredaktion Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: lokales@vnp.de
Noch viel mehr Artikel des Projekts "Nürnberg – Stadtbild im Wandel" mit spannenden Ansichten der Stadt und Hintergründen finden Sie unter www.nuernberg-und-so.de/thema/stadtbild-im-wandel oder www.facebook.com/nuernberg.stadtbildimwandel
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