Blick in die Fichtestraße

Ein Opfer fränkischer Krämerseelen: Raubbau an den schmucken Mietshäusern in Nürnberg-Schoppershof

7.8.2024, 19:00 Uhr
Die Fichtestraße in Schoppershof heute und auf einer Fotografie von 1912.

© Boris Leuthold/anonym Die Fichtestraße in Schoppershof heute und auf einer Fotografie von 1912.

Ein Blick aus einem Eckhaus an der Fichtestraße aus der Zeit vor über einem Jahrhundert zeigt uns, wie Nürnbergs neue Wohnquartiere damals aussahen. So anders als heute war‘s gar nicht. Aber, um es mit den Worten Loriots zu sagen, "früher war mehr Lametta".

Er wirkt beinahe ein wenig weltentrückt, ja, surreal, jener Ausblick in die Fichtestraße in Schoppershof, die ein anonymer Fotograf um das Jahr 1912 vom Fenster des Mietshauses Nr. 44, Ecke Heerwagenstraße aus aufnahm. Die wenigen Statisten, die starken Kontraste und scharfen Schlagschatten der Häuser erinnern an Gemälde von Edward Hopper und Giorgio de Chirico.

Beinahe surreal wirkt dieser Ausblick von circa 1912 vom Eckhaus Nr. 44 auf das nördliche Ende der Fichtestraße jenseits der Kreuzung mit der Heerwagenstraße.

Beinahe surreal wirkt dieser Ausblick von circa 1912 vom Eckhaus Nr. 44 auf das nördliche Ende der Fichtestraße jenseits der Kreuzung mit der Heerwagenstraße. © anonym /(Sammlung Sebastian Gulden)

Der nördlichste Abschnitt der Fichtestraße – sie trägt den Namen des Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) – zwischen Heerwagen- und Fröbelstraße wurde 1907 auf freiem Feld angelegt. Wie damals für die Nebenstraßen der Vorstadt üblich, waren nur die Gehsteige, die Entwässerungsrinnen und die Kreuzungsbereiche mit Granitpflaster versehen. Die Fahrbahnen dagegen waren geschottert. In Zeiten, da nur sehr wenige Menschen ein Automobil besaßen, kein Problem. Nächtens spendeten (spärlich platzierte) Gaslaternen – wie im Vordergrund unseres alten Fotos – gedimmtes Licht.

Der dezente Schmuck passte zu den Mietshäusern in Nürnberg

Das erste vollendete Gebäude auf unserem Foto war der nördliche Fluchtpunkt des Straßenzuges: die neue Bismarckschule, erbaut 1902-04 nach Planung von Georg Kuch und Carl Weber und versehen mit üppigem Bauschmuck. Gegen die Fichtestraße allerdings zeigte die Fassade – neben der klassizierenden Gliederung – nur ornamentalen Schmuck in Form von Putzfeldern und Festons (Blattgirlanden).

Dieser dezente, aber wirkungsvolle Schmuck des öffentlichen Raumes passte wunderbar zum Charakter der Mietshäuser, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs an der oberen Fichtestraße emporwuchsen. Ihre Planer veredelten die eher einfachen, konservativen Kubaturen, die allenfalls einmal einen Erker oder Schweifgiebel in der Dachzone aufwiesen, mit Erdgeschossfronten und Gliederungsteilen aus Sandstein, setzten ansonsten aber auf flächigen Putzdekor.

Die Mieter hatten schon private Toiletten

Die Wohnungen drinnen – zwei bis drei pro Etage – waren dem kleinbürgerlichen Mietklientel entsprechend eher bescheiden. Im Gegensatz zu den etwas älteren Häusern an der nahen Geuderstraße besaßen sie aber alle schon private Toiletten. Gemeinschaftsklos waren seit 1909 in Nürnberg durch lokales Baurecht verboten.

An diesem Straßenabschnitt der Fichtestraße kamen diverse Bauunternehmer zum Zuge, darunter Martin Schmidt (Heerwagenstraße 33), Pankraz Sachs (Fichtestraße 46), Georg Krämer (Nr. 53) und Heinrich Künzel (Nr. 55). Ob sie in allen Fällen auch die Entwürfe fertigten oder sie von berufenerer Stelle zeichnen ließen, wissen wir nicht.

Ebenfalls noch weitgehend im Zustand seiner Bauzeit um 1907 erhalten ist das Eckhaus Fröbelstraße 6, auch dieses ein Werk von Wiesnet. Nur die Haube des Eckturmes fehlt.

Ebenfalls noch weitgehend im Zustand seiner Bauzeit um 1907 erhalten ist das Eckhaus Fröbelstraße 6, auch dieses ein Werk von Wiesnet. Nur die Haube des Eckturmes fehlt. © Boris Leuthold

Die Nr. 50 und die beiden Eckhäuser an der Fröbelstraße (Nr. 6/8) jedenfalls stammen aus der Feder von Wolfgang Wiesnet, der im Quartier zahlreiche Mietshäuser nach eigenem Plan errichtete. Gleich zwei Eckkneipen säumten den südlichen Eingang zur Fichtestraße: Die "Fichtenklause" (Heerwagenstraße 33) und ein weiteres Etablissement im Haus Fichtestraße 46, das aber nie richtig in Schwung kam und, nachdem es allein zwischen 1911 und 1913 viermal den Pächter gewechselt hatte, vollends verschwand.

Heute hat man kein Problem, das Straßenbild von einst wiederzuerkennen. Der Teufel steckt im Detail, denn hier haben Sparsamkeit und Modernisierungswahn einiges über den Jordan gehen lassen.

Heute hat man kein Problem, das Straßenbild von einst wiederzuerkennen. Der Teufel steckt im Detail, denn hier haben Sparsamkeit und Modernisierungswahn einiges über den Jordan gehen lassen. © Boris Leuthold

Leider zeigt unser aktuelles Vergleichsbild, wie nachlässig viele Hauseigentümer nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren Gebäuden umgingen: Da wurde der Fassadenschmuck achtlos mit Putz zugeschmiert, Erkerbekrönungen gekappt, die alten Türen und Fenster durch unpassenden Stahl- und Plastikschrott ersetzt.

Für die Gebäude im Reformstil der Zeit um 1910 ist solch Raubbau besonders fatal, denn die ohnehin schmuckarmen Fronten verwandeln sich dadurch rasch in leb- und lieblose Schuhschachteln. Während manch Verlust gewiss Kriegsschäden und Geldmangel zuzuschreiben ist, sind viele dieser hässlichen Eingriffe Produkt einer Geisteshaltung, die bar jeder Achtung für Kunst und Geschichte ist.

In unserem Bildvergleich verdeckt ist das Haus Fichtestraße 50. Es wurde 1908 von Wolfgang Wiesnet geplant und hat sich seinen Fassadenschmuck wunderbar bewahrt.

In unserem Bildvergleich verdeckt ist das Haus Fichtestraße 50. Es wurde 1908 von Wolfgang Wiesnet geplant und hat sich seinen Fassadenschmuck wunderbar bewahrt. © Boris Leuthold

Dem Krämerseelentum fiel etwa der Putzdekor des Erkers am Haus Nr. 55 und die gesamte Straßenfront der Nr. 57 oberhalb des Erdgeschosses zum Opfer. Der Besitzer des Eckhauses Heerwagenstraße 33 wiederum dachte offenbar, dass Fensterläden als Gestaltungselement, vor allem aber als Sonnenschutz überbewertet sind. Die Bedeutung der großen Stichbogenfenster im Parterre hat man offenbar auch nicht kapiert. Anders lässt sich nicht erklären, warum man deren Bögen (vermutlich wegen einer Deckenabhängung im Inneren) mit einer Abkofferung versehen hat.

Bei aller Kritik ist aber festzuhalten, dass sich unser Straßenzug viel von seinem historischen Charakter bewahrt hat, und vieles, was nicht mehr da ist, mit entsprechendem Willen, Geld und verständigen Handwerkern wieder hervorzuholen wäre. Man müsste nur wollen.

Diese Serie lädt zum Mitmachen ein. Haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus Nürnberg und der Region? Dann schicken Sie sie uns bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Nachrichten/Nürnberger Zeitung, Lokalredaktion, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: redaktion-nuernberg@vnp.de
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