Wie sich die Häuser gleichen

Die Drillinge des Maurermeisters Schätz: Wohnkultur im Nürnberg des 19. Jahrhunderts

Sebastian Gulden

11.10.2022, 10:48 Uhr
Zu den wenigen Prunkwohnbauten, die sich an der Ringstraße erhielten, gehört das Haus Deininger (Spittlertorgraben 27), das Matthäus Schätz in den 1860ern erbaute.   

© Sebastian Gulden Zu den wenigen Prunkwohnbauten, die sich an der Ringstraße erhielten, gehört das Haus Deininger (Spittlertorgraben 27), das Matthäus Schätz in den 1860ern erbaute.   

Haben Sie schon mal was von "Eigenplagiat" gehört? Sein eigenes geistiges Eigentum ohne Zitat mehrfach zu verwursten, ist im wissenschaftlichen Betrieb nicht wohlgelitten. Bei der Bauwerksplanung kann man das schon mal machen. Warum auch nicht, wenn’s dem Stadtbild zur Zierde gereicht?

Es gab eine Zeit, in der waren Maurermeister noch richtige Baukünstler. Bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren vor allem sie es, die in Nürnberg Wohnhäuser nicht nur bauten, sondern auch planten und gestalteten. Zumeist taten sie dies im Team mit einem Zimmermeister, der den Bauten Dach, hölzerne Altane und dergleichen mehr aus seinem Gewerk spendierte.

Eine gewisse Emma sandte diese Postkarte mit einem Schnappschuss ihres Zuhauses in der Hallerwiese 6 im Jahr 1916 an Fräulein Elsa von Schuh in Starnberg.  

Eine gewisse Emma sandte diese Postkarte mit einem Schnappschuss ihres Zuhauses in der Hallerwiese 6 im Jahr 1916 an Fräulein Elsa von Schuh in Starnberg.   © unbekannt (Sammlung Sebastian Gulden)

Die Anwesen Hallerwiese 4/6 (von rechts) gibt es noch heute: Während die Nr. 6 nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut wurde, ist die Nr. 4 ein Neubau von 1983.  

Die Anwesen Hallerwiese 4/6 (von rechts) gibt es noch heute: Während die Nr. 6 nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut wurde, ist die Nr. 4 ein Neubau von 1983.   © Sebastian Gulden

Viele Maurermeister waren gleichzeitig Bauunternehmer, die in Eigenregie Grundstücke kauften, beplanten, die fertigen Mietshäuser anschließend als Kapitalanlage vermieteten oder im Ganzen – Eigentumswohnungen gab es damals noch nicht – an neue Eigentümer veräußerten.

Als um 1853 der 33-jährige Maurer Johann Matthäus Schätz von seinem Geburtsort Lauf nach Nürnberg kam, um dort sein Glück zu finden, ahnte er selbst wohl am wenigsten, dass er einst viel mehr erschaffen würde als hie und da mal ein verstecktes Rückgebäude oder einen neuen Kaminzug für eines der alten Häuser in der völlig zugebauten Altstadt. Die Ringstraße und die großen Ausfallstraßen mit ihrer repräsentativen Bebauung, seinerzeit bevorzugte Wohnquartiere der oberen Zehntausend, sollten ihm die Chance bieten, sichtbaren Anteil an der Gestaltung seiner neuen Heimatstadt zu nehmen.

Gut erhaltene und gepflegte Teile der alten Fassade erinnern noch heute daran, dass das Haus Hallerwiese 6 einst ein Prunkbau im Rundbogenstil war.  

Gut erhaltene und gepflegte Teile der alten Fassade erinnern noch heute daran, dass das Haus Hallerwiese 6 einst ein Prunkbau im Rundbogenstil war.   © Sebastian Gulden

Das Ganze begann in den 1860er Jahren, als der Tabakfabrikant Georg Deininger Schätz damit beauftragte, ihm und seiner Familie eine repräsentative Mietsvilla an der Kreuzung Obere Turnstraße und Spittlertorgraben (Haus Nr. 27) zu errichten. Noch heute beeindruckt der Bau ob seiner (wegen des Grundstückszuschnitts) etwas merkwürdigen Fassadengestaltung und der üppigen Bauzier im so genannten "Rundbogenstil".

Inspiriert von München

Dieser Stil, inspiriert von Münchener Prunkbauten Leo von Klenzes und Friedrich von Gärtners, einen streng symmetrischen Grundentwurf im Sinne des Klassizismus mit Details der Romanik und der italienischen Frührenaissance verbindend, war damals schon ziemlich altbacken. Er fand aber nach wie vor Liebhaber – so wie Matthäus Schätz und seine finanzkräftige Kundschaft.

Von Goldschläger Johann Thomas Sixt kaufte er dann 1873 den südlichen Teil des Seitz’schen Hesperidengartens in St. Johannis, der ehedem die Fläche der Grundstücke Johannisstraße 1/3, Neutorgraben 3/5 und Hallerwiese 4/6 einnahm. Auf den letztgenannten beiden Parzellen errichtete Schätz ein Paar zweier achsensymmetrisch und spiegelbildlich gestalteter Mietshäuser.

Ein Bad war noch lange nicht üblich

Wie am Haus Deininger platzierte Schätz auch hier einen breiten, auskragenden Mittelrisalit (einen vorspringenden Gebäudeteil) im Zentrum der Fassade zur Pegnitz, der von einem Zwerchhaus mit Dreiecksgiebel überhöht wurde. Pilaster, Gesimse, Segment- und Rundbogenfenster mit stämmigen Säulen, Profilrahmen und bekrönenden Akroteren (stilisierten Palmblättern) zierten die Sandsteinfronten. Drinnen erwarteten die Mieter großzügige Etagenwohnungen mit vier Zimmern, Küche, Speisekammer und Toilette, allerdings – damals selbst bei Häusern gehobenen Standards wie hier üblich – ohne Bad.

Die Bucher Straße 18 hat es besser erwischt als ihre Schwester an der Hallerwiese. Nur die nachträglichen Ladeneinbauten stören die Symmetrie der Fassade.  

Die Bucher Straße 18 hat es besser erwischt als ihre Schwester an der Hallerwiese. Nur die nachträglichen Ladeneinbauten stören die Symmetrie der Fassade.   © Boris Leuthold

Offenbar war Schätz von seinem Entwurf derart überzeugt, dass er ihn mit leichten Veränderungen gleich noch einmal baute: Auf dem Grundstück Bucher Straße 18, das keine 600 Meter Luftlinie von der Hallerwiese entfernt lag, ließ der Baumeister 1875/1876 ein Mietshaus errichten, dessen Straßenfront dem Gebäudepaar an der Hallerwiese zum Verwechseln ähnlich sieht. Selbst die Raumaufteilung war nahezu identisch. Welch wundervolles Eigenplagiat!

Häuserkopien gibt es auch an anderer Stelle

Schätz war weder der erste noch der einzige Baumeister, der seine Entwürfe mehrfach verwendete. Wer wachen Auges durch die gut erhaltenen Nürnberger Vorstadtstraßen wandert, wird manch Fassade mit teils minimaler Abwandlung mehrfach sehen, etwa im Falle der Häuser Schweppermannstraße 53 und Kaulbachstraße 21, die beide um 1904 nach Planung des Architekten und Bauunternehmers Gustav Hübler errichtet wurden.

Spätestens in den Luftangriffen des Zweiten Weltkrieges gingen die Schicksale der Häuserdrillinge auseinander – leider: Während die Bucher Straße 18 den Krieg unbeschadet überstand, wurde das Häuserpaar an der Hallerwiese fast völlig zerstört. Beim Wiederaufbau bezog man an der Nr. 6 die erhaltenen Teile der Fassade zur Pegnitz in den Wiederaufbau mit ein.

Vier barocke Jahreszeiten erinnern an die Vergangenheit

Noch heute stehen hinter dem Haus, wohl als letzte Reminiszenzen an den einstigen Hesperidengarten, vier barocke Sandsteinfiguren, die die vier Jahreszeiten darstellen. Und auch ein Teil der Grundstückseinfriedung mit Tor von 1911 blieb hier erhalten. Haus Nr. 4 dagegen wurde 1983 völlig neu erbaut. Spannend: Auch hier hat man das Schätz’sche Motiv des auskragenden Mittelrisalits in zeitgenössischer Form wieder aufgegriffen.

Matthäus Schätz überlebte seine Schöpfungen nur um wenige Jahre. Am 27. September 1878 ist er in seiner Wahlheimat Nürnberg gestorben. Einige seiner großartigen Bauten indes sind uns geblieben und legen noch heute Zeugnis ab von der Schaffenskraft und Kunstfertigkeit der alten Maurermeister, die Handwerker, Bauunternehmer und Baukünstler in sich vereinten.

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