Radfahren in Österreich

Almtraumhafte Kalkalpen: Auf Augenhöhe mit dem Abgrund auf dem E-Mountain-Bike unterwegs

29.6.2024, 08:00 Uhr
Erfahrungen in der höheren Wildnis: Unterwegs im Abseits Österreichs, dem Nationalpark "Gesäuse".

© Christian Mückl Erfahrungen in der höheren Wildnis: Unterwegs im Abseits Österreichs, dem Nationalpark "Gesäuse".

Augenklappen zum Beispiel. Was haben die mit dem "Nationalpark Gesäuse" in der Steiermark zu tun? Viel. Nehmen wir den Kölblwirt. Der hat ein Sternenzimmer in Johnsbach, wo das Auge fensterln kann. Weil die Lichtverschmutzung im Bergsteigerdorf so jungfräulich ist wie eine neugeborene Gämse, braucht das menschliche Auge Zeit für die Finsternis. Sternstunden blitzeblank. "Piraten hatten ihre Augenklappen nicht nur, weil sie ein verletztes Auge hatten", verrät Andi Hollinger, der mit dem Mountainbike-Dienstfahrrad als kundiger Nationalparkbegleiter unterwegs ist, um in die Licht- und Schattenseiten der höheren Wildnis zu entführen. "Das menschliche Auge gewöhnt sich erst nach rund 45 Minuten an die Dunkelheit. Wer ans Dunkle gewöhnt ist, ist im Vorteil."

Klar, wir sind hier nicht bei "Fluch der Karibik", vielmehr ist es ein alpiner Segen der Abgeschiedenheit, die in diesen Nischenregionen des Alpentourismus, in den Nationalparks zwischen Oberösterreich und der Steiermark, in die Muskeln und Seele schleichen lässt. "Nationalpark bedeutet, dass die Wildnis wild sein darf", sagt Hollinger, Anfang 50, der so gar nicht wild aussieht, in seiner halbfilzenen Nationalparkjacke und den rahmenlosen Brillengläsern. Hinter denen aber Augen stecken, die sehen, wo sich zarte Schönheiten wie die in Europa einzigartige "Zierliche Federnelke" eine grüne Flucht zum Heranreifen aussuchen.

Wilde Ehe der Wassermassen

Auf den Landkarten des Massentourismus nehmen der verhältnismäßig kleine Nationalpark Gesäuse (benannt nach den Wirbeln des hier noch pubertierenden Wildflusses Enns) sowie das almtraumhaft etwas größeren und sehr waldreichen Nationalparks Kalkalpen bislang eher die Rolle von Mauerblümchen ein. Eingeladen, sie wachzuküssen, sind Wanderer, dazu die Herausforderung suchende Mountainbiker, Wildwasserbootfans, Klettervolk und nicht zuletzt Musenmenschen, die auf Urwald stehen.

Das Städtchen Steyr, eine Zugstunde südlich von Linz gelegen, fungiert als Zweiflussschneise zum Nationalpark Kalkalpen. Die ungestümen Bergdudler Steyr und Enns paaren sich mit ihren Wassermassen in der Stadt kirchennah zur wilden Ehe, bevor sie sich gottergeben dann bei St. Valentin in die Donau ergießen.

Dass sie heute den Nationalpark Kalkalpen vor der Nase haben, verdanken die Steyrer einer Protestbewegung in den 1980er Jahren. Franz Sieghartsleiter, inzwischen gut 60, war Jurist. Er wuchs im Juni 1984 aber über sich selbst hinaus, als plötzlich die Idee eines Stausees am oberen Lauf des Reichramingbaches die luchs- wie kuhfreundliche Welt des unteren Oberösterreichs aufrüttelte.

Mochten sich anderswo in Europa Greenpeace-Aktivisten an Fabrikschlote anketten. Hier nahmen die lokalen Gegner, zu denen Siegerhartleitners Gesinnungsgenossinnen und -genossen zählten, es Aug‘ in Aug‘ mit den Bauarbeitern auf. Zwei kampierten gar dauerhaft an der geplanten Baustelle, um mit den Staudamm-Konstrukteuren zu reden, zu rauchen und zu trinken. Nach ein paar Gerichtsprozessen strichen die Stauseewassermänner das Segel. Stattdessen war die Idee des Nationalparks als Verhüterli ungewollter Wirtschaftsgeburten geboren.

Klar, sie haben keinen Mount Everest hier, sagt Sieghartsleitner, der drahtig auf seinem Mountainbike hockt, um uns gleich 50 Kilometer lang 1487 Höhenmeter durch das grüne Juwel der Nordalpen zu jagen. Dafür einen Mountainbike-Everest.

Dass der Trailbereich Steyrsteg am Fernradweg "Trans Nationalpark" etwas "ruppiger und talseitig steiler ist", ist nicht untertrieben. Weil man als sportlicher Amateur wirklich nicht mehr weiß, ob man nun eher vor Anstrengung schwitzt oder vor Angstschweiß in Anbetracht der zentimeterschmalen Schotterspur neben der Schlucht im Augenwinkel. Aber wie immer sind das im Nachhinein die allerbesten Erlebnisse.

Kaum mehr als 2100 Meter hoch sind die Gipfel dann im südlich der Kalkalpen gelegenen Nationalpark Gesäuse mit der zackigen Planspitze, einem bissigen Berg. Hier können sich Kletterer an der Nordwand den Zahn ausbeißen, während sich der scharfe Gipfel von der Südseite aus in fünf Wanderstunden bis zur Steilkante schwindelfrei ertanzen lässt. Augenklappen? Gehen durch. Nur Scheuklappen sind hier fehl am Platz.

Mehr Informationen zu dieser Reise

Tourismusverband Steyr und die Nationalparkregion, Stadtplatz 27, 4400 Steyr, Österreich. Tel. (0043) 7 25 25 32 29, www.steyr-nationalpark.at

Anreise: z. B. mit dem ICE bis Linz ab Nürnberg in rund drei Stunden, danach S-Bahn bis Steyr in ca. 60 Minuten.

Unterkünfte: z. B. Villa Sonnwend Nationalpark Lodge in Windischgarsten (Kalkalpen) und Kölblwirt in Johnsbach (Gesäuse).

Fahrradverleih: z. B. E-Mobility Reichraming,

Udo-Block-Hof 5, 4462 Reichraming. Österreich.

Tel. (0043) 6 64 88 72 66 56. www.emobility.co.at

Keine Kommentare