Leckeres aus der Tonne: Wir waren nachts beim Containern dabei

Alena Specht

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9.10.2022, 15:06 Uhr
Viele Lebensmittel, die die Truppe aus der Tonne fischt, sind einwandfrei und noch gut essbar.

© Alena Specht Viele Lebensmittel, die die Truppe aus der Tonne fischt, sind einwandfrei und noch gut essbar.

Es ist kurz nach 21 Uhr an einem Sportplatz in der Region. Junge Frauen und Männer wechseln nach dem Training die Schuhe und ziehen sich Jacken, Mützen und Handschuhe an. Der Halbmond leuchtet am Himmel, es hat etwa sieben Grad. "Gehen wir noch Einkaufen?", fragt Carina (alle Namen in diesem Text von der Redaktion geändert) in die Runde. Um sie herum eifriges Nicken.

Doch die Lebensmittelgeschäfte haben längst geschlossen. Einige der Sportlerinnen und Sportler schwingen sich dennoch aufs Fahrrad und machen sich auf den Weg zum nahegelegenen Supermarkt. Sie fahren über den leeren Parkplatz, vorbei am Haupteingang. Es geht einmal ums Gebäude herum, zu einem Hinterhof.

Sie warten ab, bis ein Auto vorbeigefahren ist, schalten dann die Lichter ihrer Fahrräder aus und biegen in den Hof ein. Sie gehen Containern. Das heißt, sie holen Lebensmittel aus den Abfallcontainern und Mülleimern von Supermärkten und Discountern. Lebensmittel, die zwar noch gut sind, aber nicht mehr verkauft werden können, weil sie abgelaufen sind oder weil sie Makel haben. Bei vielen Dingen ist aber auch nicht erkennbar, warum sie im Müll gelandet sind.

So auch bei dem Obst und Gemüse, dass Timo aus der Tonne direkt am Eingang des Hinterhofes zieht. Äpfel, Paprika, eine Melone, zwei Gurken. Die Sachen sind einwandfrei. Nur eine Paprika aus der Dreier-Verpackung hat eine matschige Stelle. Timo reist das Plastik auf, nimmt die Beschädigte heraus und schmeißt sie zurück in die Tonne. Die anderen beiden nimmt er mit.

"Zu viel, um alles mitzunehmen"

Es stehen noch fünf weitere Tonnen im Hof. Bis auf eine sind alle fast bis unter den Rand gefüllt. Die Freunde und Freundinnen holen noch Mandarinen, Weintrauben, Champignons, Tomaten und mehrere Bündel Bananen aus dem Müll. Die Sachen sind noch gut essbar, nur manche haben ein paar braune Stellen oder Dellen.

Auch Jesuitenpater Jörg Alt rettet Lebensmittel und hat sich deswegen sogar selbst angezeigt. 

Auch Jesuitenpater Jörg Alt rettet Lebensmittel und hat sich deswegen sogar selbst angezeigt.  © Valeska Rehm, epd

"Es ist echt abartig, wie viel wir hier oft finden", sagt Rafael. Für die Freunde ist ihr wöchentlicher Ausflug zum "Einkaufen" ein festes Ritual geworden. Sie machen das nicht aus Geiz oder weil sie kein Geld haben, um sich die Lebensmittel zu kaufen. "Wir wollen einfach nicht akzeptieren, dass so viele Lebensmittel in der Tonen landen. Wenn wir sie herausholen und verwerten, werden sie wenigstens nicht verschwendet", sagt der 26-Jährige.

Einer aus der Sportgruppe gehe schon länger containern, erzählen sie, und nach und nach hätten sich immer mehr angeschlossen. Inzwischen sind sie nach dem Training oft mit mehreren Leuten beim Supermarkt und teilen die gefundenen Lebensmittel dann untereinander auf. "Oft müssen wir sogar Sachen wieder reinwerfen, weil es zu viel ist, um alles mitzunehmen", sagt Mira. Sie packen nur das ein, was sie selbst verbrauchen oder an Freund:innen, Bekannte oder WG-Mitbewohner:innen weitergeben können.

Schokolade aus dem Müll

Häufig kommen auch noch andere Menschen dazu, wenn sie gerade in den Tonnen wühlen. Dann werde natürlich auch mit denen geteilt, erzählen sie. Hauptsache, die Lebensmittel haben noch einen Zweck. Auffällig sei es, dass man beim Containern aber eigentlich ausschließlich junge Menschen treffe, erzählt Kilian. Alle etwa so alt, wie die Sportlerinnen und Sportler, also etwa zwischen 20 und 30 Jahren. Senioren, Obdachlose oder Menschen, die am Existenzminimum leben, sehe man eigentlich nie. "Wir nehmen also niemanden was weg, der es dringender braucht."

Neben dem Retten von Lebensmitteln hat das Containern für die jungen Menschen natürlich aber auch weitere Vorteile. Sie spare enorm Geld, erzählt Anna. Einkaufen müsse sie eigentlich nur noch haltbare Lebensmittel wie Nudel und Reis, Gewürze, Öl und natürlich, wenn sie besondere Wünsche habe. Obst, Gemüse, Eier, Kartoffeln und Brot findet sie in den Mülleimern. Immer wieder ziehe sie auch Lebensmittel aus den Tonnen, die sie sich niemals kaufen würde. Maracujas, Shiitake-Pilze, Feigen, Kokosnüsse, Artischocken - auch solche ausgefallenen Dinge landen im Müll. "So probiert man immer wieder was Neues aus", lacht sie. Das verrückteste, was Anna im vergangenen Jahr gefunden hat, war ein ganzer Karton mit Milka-Schokoladentafeln.

Diebstahl und Hausfriedensbruch

Doch was auf den ersten Blick nach einem lustigen nächtlichen Abenteuer aussieht, ist eine Straftat. Containern ist in Deutschland illegal. Deswegen sind die Personen und der Ort des Geschehens in diesem Text nicht erkennbar. Im Dezember vergangenen Jahres holte Jesuitenpater Jörg Alt in Nürnberg Lebensmittel aus Abfallcontainern und kassierte dafür eine Anzeige. Der Fall erregte bundesweit enormes Aufsehen.

2019 landeten zwei Münchner Studentinnen vor Gericht, die einem Müllcontainer eines Supermarktes Nahrungsmittel entnommen hatten. Sie wurden wegen Diebstahls schuldig gesprochen und zu acht Stunden gemeinnütziger Arbeit und einer Geldstrafe verurteilt.

Dass es sich bei den Lebensmitteln um Müll handelt, spielt dabei keine Rolle. Solange sich die Abfallbehälter auf dem Gelände des Supermarktes befinden, ist es dessen Eigentum. Beschädigt jemand beim Containern Schlösser oder Türen ist es auch noch Sachbeschädigung. Und wenn sich die Tonnen abgegrenzt vom öffentlichen Verkaufsbereich befinden oder sogar Zäune überwunden werden, kann die Supermarktleitung Anzeige wegen Hausfriedensbruch erstatten.

Immer wieder wurde in der Politik schon diskutiert, Containern zu legalisieren, doch bisher sind keine konkreten Schritte in diese Richtung erkennbar. Experten argumentieren, dass eine Legalisierung des Containerns nicht mit dem bestehenden Rechtssystem vereinbar sei. Außerdem habe das Bundesverfassungsgericht die aktuelle Rechtslage als verfassungskonform bestätigt. Immerhin sei Containern bisher sowieso oft straffrei. Auch das Haftungsrisiko für Supermärkte sei nicht geklärt, wenn sich jemand beim Containern verletze oder an den Lebensmitteln den Magen verderbe.


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