Verteidigungsminister
Plan für neuen Wehrdienst: 200.000 Reservisten mehr nötig
12.6.2024, 07:42 UhrVerbindliche Musterungen, verpflichtende Fragebögen und eine Erfassung Wehrtauglicher: Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat ein Konzept für einen neuen Wehrdienst vorgelegt - als Grundlage für eine schnelle Verstärkung der Bundeswehr im Verteidigungsfall.
Aus dem Pool von 400.000 Kandidaten eines Jahrgangs sollen damit von 2025 an jährlich zunächst 5000 zusätzliche Wehrpflichtige, später auch mehr gewonnen werden. "Ziel ist, diese Zahl Jahr für Jahr aufwachsen zu lassen und damit die Kapazitäten zu erhöhen", sagte Pistorius. Und: "Wir müssen diesen Aufwuchs hinbekommen."
Das neue Modell soll aus Grundwehrdienst von sechs Monaten mit einer Option für zusätzlichen freiwilligen Wehrdienst bis zu zusätzlichen 17 Monaten bestehen. Dazu wird eine verpflichtende Erfassung eingeführt, in der junge Männer ihre Bereitschaft und Fähigkeit zu einem Wehrdienst benennen müssen - und junge Frauen dies tun können. Eine Gleichbehandlung der Geschlechter beim Wehrdienst ist im Grundgesetz bisher nicht vorgesehen. Pistorius sprach sich dafür aus, dies zu ändern, mit den Schritten zu einem neuen Wehrdienst aber nicht darauf zu warten.
Reaktion auf die andere Sicherheitslage in Europa und der Welt
Die Bedrohungslage sei eine völlig andere ist als noch vor wenigen Jahren und Russland führe gegen die Ukraine einen völkerrechtswidrigen Krieg, saget Pistorius zur Begründung. Russland habe die Rüstungsausgaben massiv erhöht, produziere Waffensysteme auf Vorrat und habe auf Kriegswirtschaft umgestellt. "Die verbalen Attacken gegenüber Nato-Ländern und anderen Nachbarstaaten, nehmen sichtbar und hörbar zu."
Für den Plan müssen mindestens das Wehrpflichtgesetz und das Soldatengesetz angepasst werden. Der Verteidigungsminister machte deutlich, dass er dies bis zum zweiten Quartal 2025 erwarte.
Pistorius sagte: "Wir brauchen nach Einschätzung der Bundeswehr und der Nato rund 200.000 Reservisten mehr. Das heißt, wir reden über dann insgesamt rund 460.000 Soldatinnen und Soldaten". Ziel sind damit 203.000 stehende Streitkräfte, 60.000 heutige Reservisten und 200.000 zusätzliche Reservisten. Derzeit hat die Bundeswehr knapp 181.000 Männer und Frauen und rund 60.000 Reservisten.
"Wir wollen die Besten und die Motiviertesten"
Auf der Grundlage des Fragebogens soll die Bundeswehr die Entscheidung darüber treffen, wer zur Musterung eingeladen wird. "Wir sehen dann damit einen Auswahl-Wehrdienst vor", sagte Pistorius. "Es geht genau darum: Wir wollen die Besten und die Motiviertesten und bieten denen gleichzeitig etwas dafür an." Den ausgewählten jungen Menschen sollen einen sechsmonatigen Grundwehrdienst leisten und können sich für bis zu insgesamt 23 Monate zu verpflichten. Sie werden monatlich mehr als 1800 Euro erhalten und bei einer Verpflichtung über sechs Monate hinaus eine Prämie von beispielsweise 5000 Euro.
Die Militärplaner gehen davon aus, mit ihren Angeboten eine deutlich ausreichende Zahl Freiwilliger zu finden. Pistorius nannte als Sanktion für die Pflichtteile des Systems aber auch Bußgelder. Er sagte: "Aber sollte das im Bedarfsfall anders sein, dann müssen wir natürlich immer auch eine verpflichtende Option nachdenken."
Die SPD-Spitze pochte zuletzt auf Freiwilligkeit
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken setzt beim neuen Wehrdienst-Modell allerdings weiter auf Freiwilligkeit. "Für mich ist das Erleben von Selbstbestimmung ganz entscheidend für die Akzeptanz der Demokratie", sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Mittwoch). Die Union kritisierte den Pistorius-Plan. Der verteidigungspolitische Sprecher Florian Hahn (CSU) sagte, Pistorius habe "ein Konzept für einen Pflichtdienst angekündigt und neun Monate später ist ein verbesserter Freiwilligendienst tatsächlich übrig geblieben". Und: "Offensichtlich hat ihm der Bundeskanzler selbst und die Ampel die Luft rausgelassen in diesen neun Monaten."
Von den Ampel-Partner FDP und Grüne wurde die Bereitschaft zu einer konstruktiven Diskussion betont. Die Wehrbeauftragte Eva Högl warb für breite Unterstützung für das neue Wehrdienstmodell. "Es kann helfen, die Personalprobleme der Bundeswehr anzugehen. Und es würde einen wichtigen Beitrag zu unserer Wehrhaftigkeit leisten. Denn die gesamte Gesellschaft muss unseren Frieden, unsere Freiheit und unsere Demokratie verteidigen - militärisch und zivil", teilte Högl in Berlin mit.
Die allgemeine Wehrpflicht für Männer lebt im Verteidigungsfall wieder auf
Die Wehrpflicht war 2011 in Deutschland unter Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) nach 55 Jahren ausgesetzt worden. Das kam einer Abschaffung von Wehr- und Zivildienst gleich. Gleichzeitig wurden praktisch alle Strukturen für eine Wehrpflicht aufgelöst. Im Wehrpflichtgesetz ist aber weiter festgelegt, dass die Wehrpflicht für Männer auflebt, wenn der Bundestag den Spannungs- und Verteidigungsfall feststellt, ohne dass es nach 2011 noch konkrete Vorbereitungen für eine solche Situation gab.
Öffentlich diskutiert wurde zuletzt auch eine weiter gefasste neue Dienstpflicht, die auch Rettungsdienste und den Katastrophenschutz umfassen könnte. Für eine Dienstpflicht junger Frauen müsste das Grundgesetz geändert werden. Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann teilte mit: "Im Sinne der Wehrgerechtigkeit würden sowohl junge Frauen als auch junge Männer einen sogenannten Pflichtfragebogen ausfüllen müssen. Die vom Minister forcierte Konzentration auf junge Männer dürfte nicht zu halten sein."
Bundeswehrverband sieht nun Testfall für die Zeitenwende
Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Oberst André Wüstner, hatte vor Bekanntwerden der Pistorius-Pläne entschlossene Schritte für einen neuen Wehrdienst gefordert. Die Personalzahlen in der Bundeswehr seien in diesem Monat auf den tiefsten Stand seit 2018 gefallen, sagte Wüstner der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. "In den kommenden Tagen wird sich zeigen, bei wem seit Ausrufung der Zeitenwende zumindest verteidigungspolitisch tatsächlich eine Erkenntniswende eingetreten ist", sagte der Verbandschef. "Denn wer das von sich behauptet - ich hoffe, dass es zumindest die Fachpolitiker tun - der wird sich nicht pauschal gegen eine neue Wehrform oder eine neue Art Wehrpflicht wenden können."
Für den Pistorius-Plan ist nach dpa-Informationen eine Erweiterung des Wehrpflichtgesetzes für junge Männer nötig. Militärplaner gehen dabei davon aus, dass pro Jahr 400 000 Menschen den Fragebogen ausfüllen müssen, und sie schätzen, dass ein Viertel davon Interesse bekunden könnte. Vorgesehen ist es, 40 000 Kandidaten zur Musterung zu bestellen. Aktuell gibt es Kapazitäten für eine Ausbildung von 5000 bis 7000 Rekruten, die aber wachsen sollen. Ausgegangen wird von einem Dienst, der sechs oder auch zwölf Monate dauern kann.
Pistorius will am Vormittag den Verteidigungsausschuss des Bundestags über seine Pläne informieren. Am Nachmittag will er sie der Öffentlichkeit bei einer Pressekonferenz vorstellen.
Die SPD pochte zuletzt auf Freiwilligkeit
Gegen die Wiedereinführung eines verpflichtenden Wehrdienstes gab es zuletzt vor allem in Teilen der SPD deutlichen Widerspruch. So hatte sich SPD-Chef Lars Klingbeil dafür ausgesprochen, bei der Rekrutierung weiterhin auf Freiwilligkeit zu setzen. "Ich finde, wir sollten es freiwillig probieren, indem wir die Bundeswehr noch attraktiver machen", sagte er. Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour hatte zum Jahreswechsel deutlich gemacht: "Ich glaube nicht, dass die Wehrpflicht gebraucht wird." Widerstand gegen einen verpflichtenden Dienst gab es auch aus der FDP, wobei eine Kursänderung möglich erscheint.
Verpflichtend wäre nach dem Pistorius-Modell nun die Beantwortung des Fragebogens sowie die Musterung, wenn zu dieser eingeladen wird. Er plädiert dem Vernehmen nach dafür, auch schon in Friedenszeiten Wege für einen verpflichtenden Militärdienst freizumachen, falls nicht genug Rekruten gefunden werden.
Die Wehrpflicht war 2011 in Deutschland unter Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) nach 55 Jahren ausgesetzt worden. Das kam einer Abschaffung von Wehr- und Zivildienst gleich. Gleichzeitig wurden praktisch alle Strukturen für eine Wehrpflicht aufgelöst. Im Wehrpflichtgesetz ist aber weiter festgelegt, dass die Wehrpflicht für Männer auflebt, wenn der Bundestag den Spannungs- und Verteidigungsfall feststellt, ohne dass es nach 2011 noch konkrete Vorbereitungen für eine solche Situation gab.
Die Bundeswehr wurde zuletzt immer kleiner
Trotz einer Personaloffensive war die Bundeswehr im vergangenen Jahr auf 181 500 Soldatinnen und Soldaten geschrumpft. Pistorius ließ deshalb - auch unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine - Modelle einer Dienstpflicht prüfen. Er hatte schon bei einer Regierungsbefragung durchblicken lassen, dass er nicht auf komplette Freiwilligkeit setzt: "Nach meiner festen Überzeugung wird es nicht gehen ohne Pflichtbestandteile." Wiederholt betonte er, Deutschland müsse "kriegstüchtig" werden, um zusammen mit den Nato-Verbündeten glaubhaft abschrecken zu können.
Zuletzt äußerte er beim Tag der Bundeswehr Verständnis dafür, dass der Begriff "Kriegstüchtigkeit" einige erschreckt habe und immer noch störe. Dies sei auch ein bisschen die Absicht gewesen. "Es ist notwendig, auch durch die richtigen Begriffe deutlich zu machen, worum es geht", fügte er hinzu. Es gehe darum, einen Verteidigungskrieg führen zu können, wenn man angriffen werde - "also vorbereitet zu sein auf das Schlimmste, um nicht damit konfrontiert zu werden".
Die Gerechtigkeit bleibt ein Problem
In der Debatte um den Wehrdienst geht es auch um die verfassungsrechtlich gebotene Wehrgerechtigkeit. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt, es habe seit der Gründung der Bundeswehr immer mehr wehrfähige Männer gegeben, als für die Armee benötigt wurden, was vielfach als ungerecht empfunden worden sei.
Der Staat kennt auch andere verpflichtende Dienste, wie bei Schöffen. Jeder Staatsbürger ist zur Übernahme dieser Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter verpflichtet. Und für den Feuerschutz wird eine sogenannte Pflichtfeuerwehr dann eingerichtet, wenn eine Freiwillige Feuerwehr nicht zustande kommt. Die Kommunen müssen dann geeignete Personen zum Feuerwehrdienst verpflichten. Öffentlich diskutiert wurde zuletzt auch eine weiter gefasste neue Dienstpflicht, die auch Rettungsdienste und den Katastrophenschutz umfassen könnte. Für eine Dienstpflicht junger Frauen müsste das Grundgesetz geändert werden.
Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Oberst André Wüstner, hatte vor Bekanntwerden der Pistorius-Pläne entschlossene Schritte für einen neuen Wehrdienst gefordert. Die Personalzahlen in der Bundeswehr seien in diesem Monat auf den tiefsten Stand seit 2018 gefallen, sagte Wüstner der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. "In den kommenden Tagen wird sich zeigen, bei wem seit Ausrufung der Zeitenwende zumindest verteidigungspolitisch tatsächlich eine Erkenntniswende eingetreten ist", sagte der Verbandschef mit Blick auf die Debatte. "Denn wer das von sich behauptet - ich hoffe, dass es zumindest die Fachpolitiker tun - der wird sich nicht pauschal gegen eine neue Wehrform oder eine neue Art Wehrpflicht wenden können."