Tarifpolitik in Zeiten der Inflation

Gewerkschaften in der Zwickmühle: Schaukeln sich Löhne und Preise bald gegenseitig hoch?

30.4.2022, 15:00 Uhr
Auch die IG Metall steht vor schwierigen Entscheidungen. 

© Daniel Karmann/dpa/Symbolbild Auch die IG Metall steht vor schwierigen Entscheidungen. 

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann will nicht so recht in die Diskussion einsteigen um die nächste Tarifforderung seiner Organisation für die Metall-und Elektroindustrie, mit rund 3,7 Millionen Beschäftigten immerhin der Kern der deutschen Wirtschaft. Viel Zeit hat der erfahrene Verhandler nicht mehr, denn die Gespräche mit Gesamtmetall beginnen zwar erst im September, doch bereits im Juni will die Gewerkschaft ihre Lohnforderung für die Beschäftigten unter anderem im Maschinen- und Fahrzeugbau festlegen. Es bleibt nicht viel Zeit angesichts der enormen Risiken aus dem Ukraine-Krieg einschließlich eines möglichen Gas-Embargos und der tiefgreifenden Störungen in den globalen Lieferketten.

Hofmann und seine Mitstreiter suchen nach Spielraum, denn momentan befinden sie sich in einer äußerst unangenehmen Zwickmühle: Die Mitglieder erwarten sichere Arbeitsplatze, aber auch einen Ausgleich für die galoppierende Inflation, während die Unternehmen nach Corona, Lieferengpässen und Energiekostenexplosion vor weiteren Belastungen schrill warnen. Ein hoher Abschluss werde Arbeitsplätze kosten sowie viele kleine und mittlere Unternehmen in die Insolvenz treiben, sagte Hofmanns Tarif-Gegenüber Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, am Donnerstag beim Tarifforum der Tageszeitung "Welt".

Von einigen Ökonomen wie auch vom Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger kommt die Forderung, die Gewerkschaften mögen sich doch zurückhalten, um eine Lohn-Preis-Spirale erst gar nicht in Gang zu setzen. Dahinter steht die Theorie, dass steigende Löhne zwangsläufig zu höheren Produktpreisen führen und sich in der Folge Preise und Löhne gegenseitig hochschaukelten.

Bei steigenden Renditen der Unternehmen bestehe diese Sorge offenbar nicht, kritisiert Reinhard Bispinck, der frühere Leiter des WSI-Tarifarchivs der gewerkschaftlichen Boeckler-Stiftung. In den Jahren seit 2000 sei in der Tarifentwicklung der verteilungsneutrale Spielraum aus Zielinflation der EZB (2,0 Prozent) und Trendproduktivität keineswegs immer erreicht worden. Tarifabschlüsse oberhalb der EZB-Regel seien für dieses und das kommende Jahr daher unproblematisch.

Energiekosten treiben Verbraucherpreise nach oben

Im April lagen in Deutschland die Verbraucherpreise vor allem wegen der galoppierenden Energiekosten um 7,4 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Inzwischen steigt auch die sogenannte Kerninflation ohne Energie und Lebensmittel deutlich. Das ist meilenweit von den 1,7 Prozent entfernt, um die nach Berechnungen der gewerkschaftlichen Böckler-Stiftung die Tarifverdienste im vergangenen Jahr zugelegt haben. Schon 2021 mussten die Beschäftigten in Deutschland so Reallohnverluste verkraften, weil ihre Lohnsteigerungen hinter der Inflation zurückblieben.

Zum Tag der Arbeit am 1. Mai hat DGB-Chef Reiner Hoffmann angesichts der hohen Preissteigerungen auf deutliche Lohnerhöhungen im laufenden Jahr gedrungen. "Ein Inflationsausgleich, eine Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an den Produktivitätsgewinnen und eine gerechtere Verteilung bleiben die Hauptziele unserer Tarifpolitik", sagte er der "Rheinischen Post".

Mit ihrer Forderung nach 8,2 Prozent mehr Geld für die rund 76 000 Beschäftigten der Stahlindustrie in Nordwest- und Ostdeutschland hat die IG Metall einen ersten Hinweis gegeben, wohin die Tarifreise 2022 gehen könnte. Der Arbeitgeberverband Stahl wies die im Vergleich zu 2021 mehr als verdoppelte Forderung der Gewerkschaft umgehend zurück. Den Unternehmen fehle es angesichts der explodierenden Rohstoff- und Energiepreise schlicht an Liquidität. Bleiben beide Seiten hart, gibt es ab Juni Warnstreiks.

Einen möglichen Ausweg aus dem gegenwärtigen Dilemma hat die Chemie-Industrie aufgezeigt. Nach nur zwei Runden einigten sich Arbeitgeber und IG BCE im April auf eine "Krisen-Brücke", mit der die Verhandlungen zunächst auf den Oktober vertagt wurden und die Beschäftigten eine Einmalzahlung von 1400 Euro erhielten. In der Vergangenheit haben auch IG Metall und Gesamtmetall mehrmals Krisenabschlüsse gezimmert und auf Krisen flexibel reagiert.