Interview mit Reitpädagogin Anna Brodka
Reiten ist gesund - nicht nur für die Oberschenkel
7.8.2021, 06:06 UhrFrau Brodka, Sitzen gilt unter Orthopäden als Gift. Kann es dann gesund sein, täglich auf einem Pferd zu sitzen?
Anna Brodka: Aktives Sitzen auf dem Pferd ist nicht zu vergleichen mit dem Sitzen auf einem Stuhl. Denn es ist für den ganzen Körper fordernd. Man muss ständig zwischen Anspannung und Entspannung wechseln – wie im Leben, um ganzheitlich zufrieden zu sein.
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Wer zum ersten Mal versucht, richtig zu reiten, hat am nächsten Tag Muskelkater in den Beinen. Es ist also mindestens gut für die Oberschenkel, wo noch?
Grundsätzlich ist Reiten für alle Körperbereiche sinnvoll: Kinder lassen in der ersten Reitstunde meist die Beine herunterbaumeln und der Oberkörper ist wenig aufgerichtet. Sie wissen erst einmal oft nicht, was es heißt, die Wade anzuspannen. Wir lernen mit der Zeit ein An- und Entspannen des ganzen Körpers. Das meiste läuft über die Rumpfmuskulatur, die Rücken- und Bauchmuskeln. Denn ein starker Bauch macht auch den Rücken stark.
Der Rücken des Menschen wird also auf dem Rücken des Pferdes trainiert.
Und bestenfalls trainieren wir neben unserem eigenen Rücken auch den des Pferdes. Ein Pferderücken ist wie eine Hängebrücke, die sich allerdings nach oben aufwölben muss, um uns gesund tragen zu können. Um dem Tier zu helfen, lassen wir uns also nicht nur tragen, sondern unterstützen es aktiv mit den Hilfen des Reiters. Somit ist gutes Reiten aktiver Tierschutz und gleichzeitig eigene Gesundheitsprävention.
Kinder sollen sich fühlen wie auf einem Ritterturnier
Schildern Sie uns doch kurz, wie Sie eine erste Reitstunde angehen.
Die Kinder spüren die Bewegung des Tiers, es ist eine gewisse Balance nötig, die Hüfte rutscht zum Beispiel nach links und rechts. Das muss man den Kindern erst einmal bewusst machen. Was muss ich mit meinem Körper tun, damit dies und jenes passiert? Bei der Anweisung, sich gerade hinzusetzen, reagiert man oft damit, ein Hohlkreuz zu machen und hält die Luft an. Dagegen hilft singen und lachen und sich ein inneres Bild vorstellen: An den Fersen hängt ein Steinklotz. Das bedeutet: Fersen tief, Knie tief. Gleichzeitig muss der Oberkörper gerade werden – also stellen wir uns vor, dass unser Oberkörper an einem Stahlseil hängt, das ihn nach oben und länger zieht. Wer zusammengekauert mit Hängeschultern auf dem Pferd sitzt, soll sich wie eine Ritterin fühlen, die ins Ritterturnier einreitet.
Und wie erklärt man die verschiedenen Fortbewegungsarten?
Die Bewegungsmuster des Reiters und des Pferdes beim Traben und Galoppieren sind in Kürze sehr schwierig zu erklären – in Gänze muss man es selbst fühlen. Man muss versuchen, das Pferd an den eigenen Bauch "heranzusaugen". Dadurch richtet sich das Pferd erst auf. Ein geübter Reiter spürt sofort, wenn es soweit ist, dann fühlt sich Reiten nochmal schöner an als vorher. Danach sind alle süchtig, dann sind Mensch und Tier wirklich eine Einheit.
Ein Pferd ist ein großes Tier, das uns doch vom Instinkt her eher Respekt, vielleicht sogar Angst einflößen sollte. Warum mögen wir trotzdem Pferde?
Bei fast allen Menschen ist eine Verbindung zu diesen Lebewesen da, wir kennen das: Einer im Auto ruft immer "Pferde", wenn wir an einer Koppel vorbeifahren. Der Mensch ist in seiner Geschichte lange abhängig gewesen vom Pferd. Das scheint noch in uns verankert zu sein, bei Frauen mehr als bei Männern. Ein Pferd besitzt Schönheit, Größe, Stärke, Sanftmut und die Mischung aus Stärke und Beschützt-werden-wollen, weil es ein Fluchttier ist. Diese Eigenschaften helfen uns auch, die Angst zu überwinden, wenn wir mit ihm ein Hindernis bewältigen wollen.
Stichwort: Hindernis. Ist aus Ihrer Sicht der Reitsport tiergerecht?
Ich bin der Ansicht: Die Dressur ist nicht für den Reiter da, sondern für das Pferd. Dressur ist das Fitnessstudio für das Pferd, um die Muskelgruppen zu stärken, die es braucht, um uns zu tragen. Ein Pferd, das nur auf der Koppel steht, hat gewisse Muskeln erst mal gar nicht. Es liegt also in der Verantwortung jedes Menschen, der Pferde reiten will, sich ständig weiterzubilden und den Fokus immer auf das Wohlergehen des Pferdes zu legen.
Das Pferd hat keine Vorurteile
Sie sind Reitpädagogin. Warum ist ein Pferd so gut geeignet, einen Menschen zu therapieren?
Die Beziehung des Menschen zum Lebewesen Pferd macht es besonders. Mit Menschen ist es manchmal schwierig und anstrengend. Das Pferd aber startet jeden Tag neu mit mir. Was davor und danach ist, zählt nicht mehr. Es zählt nur der Moment. So reagiert das Pferd vorurteilsfrei. Das kann besonders heilend für Menschen sein, die in ihrem Alltag von Stigmatisierung betroffen sind.
Viele Tierfreunde legten sich zwischen den Lockdowns einen Hund zu. Erfüllt der Hund denselben Zweck wie ein Pferd?
Grundsätzlich leben alle Tiere im Hier und Jetzt, beim Pferd ist der Unterschied, dass es Vegetarier ist und ein Fluchttier. Sein Überleben ist nur gesichert, wenn die Herde funktioniert. Das Pferd nimmt die Herdenmitglieder sensibler wahr, deshalb reagiert es anders auf uns als etwa das Raubtier Hund. Es scannt uns und die Umgebung viel mehr ab und zeigt Gefahr an. Aber beide Tiere motivieren zur gemeinsamen Bewegung und das ist positiv.
Ein anderer Mensch kann doch genauso auf meine Launen reagieren . . .
Wenn ich auf der Arbeit in einer Besprechung nicht bei der Sache bin, merkt das ein Kollege nicht unbedingt. Pferde aber fordern mehr Präsenz ein. Das Pferd spiegelt, wie es uns geht, wie konzentriert wir im Moment sind. Man galoppiert übers Stoppelfeld, freut sich des Tages und beobachtet einen Vogel – das Pferd merkt, dass es nicht aktiv begleitet wird und wechselt in den Trab. Hier ist ein guter Ansatzpunkt, mit der Selbstreflexion zu beginnen.
In Ihren Therapiestunden benutzen Sie also diese Eigenschaft des Pferdes?
Ja, genau diese Spiegelfunktion und Empathie der Pferde macht sie zu wertvollen Co-Therapeuten. Darüber hinaus schult uns das Pferd in Verantwortung und Achtsamkeit. Für mich ist ein gesunder Mensch jemand, der achtsam ist und Verantwortung übernimmt, auch gegenüber Tieren. Deshalb sage ich den Kindern, die bei mir reiten: Es zählt immer das Bedürfnis des Pferdes, es ist mein Freund und Sportpartner. Nachdem wir abgestiegen sind, bekommt zuerst das Pferd etwas zu trinken, dann erst wir.
Acht, neun Jahre ist das ideale Einstiegsalter
Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Kinder O-Beine bekommen, die zu früh mit dem Reiten beginnen.
Die Dosis macht wie überall das Gift. Wenn man es im normalen Maß macht, kann ich mir das nicht vorstellen. Doch man sollte aus einem anderen Grund abwägen, wann man beginnt: Kinder im Grundschulalter sind motorisch und kognitiv noch nicht ausreichend in der Lage, richtig Reiten zu lernen.
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Was ist also das richtige Einstiegsalter?
Wenn sich die erste Aufregung durch die pure Freude, am Pferd zu sein, gelegt hat, könnte man mit acht, neun Jahren anfangen. Denn Reiten verlangt einem viel ab: Wo sind die linke und rechte Hand, wo ist mein Pferd, was macht gerade mein Bein? Dort vorne kommt ein Traktor ums Eck – das mit sieben Jahren alleine zu regeln, wird schwierig. Und nicht zu vergessen: Kinder wollen nicht nur Leistung erbringen, sondern eine gute Zeit und ein Abenteuer erleben.
Sollten Kinder eine gewisse Sportlichkeit mitbringen?
Nicht unbedingt. Es ist sogar so, dass Kinder, die Sport aus welchem Grund auch immer negativ gegenüberstehen, sich durchs Hintertürchen über das Pferd dem Sport öffnen. Wer sich etwa nicht behaupten kann im Fußball und immer weggeschubst wird, der kann vielleicht trotzdem Reiten lernen und lernt dabei, sich hier durchzusetzen und steigert seinen Selbstwert.
Wer von sich sagen kann, dass er gut reitet, darf durchaus stolz sein.
Genau. Denn wenn ich 600 Kilo bewege und führe, macht mich das selbstbewusst. Ich richte mich auf und nehme meine Schultern zurück. Ich muss auch meinem Pferd deutlich sagen: Hier stehe ich. Und das kann ich dann auch im Pausenhof.
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