Experten-Interview: "Das Hirn will nicht abnehmen"

Physiotherapie: Gute Vorsätze - aber nicht fürs neue Jahr

Martin Schano

E-Mail zur Autorenseite

28.11.2021, 06:00 Uhr
Physiotherapie: Gute Vorsätze - aber nicht fürs neue Jahr

© Foto: Fredrik von Erichsen/picture alliance/dpa

Frau Görz, Neujahr ist nicht mehr weit und die Zeit der guten Vorsätze naht. In früheren, normalen Zeiten waren zu Jahresbeginn die Fitnessstudios mehrere Wochen lang voll – bis die Motivation nachließ. Was raten Sie Ihren Patienten als guten Vorsatz fürs neue Jahr?

Mach’s jetzt – und nicht erst im Januar. Denn sind wir ehrlich: Gymnastik, Dehn- und Kraftübungen sind ja Dinge, die niemand wirklich will. Die "Beinpresse" etwa hat nichts mit unserem Alltag zu tun. Also lasst uns etwas suchen, was uns Spaß macht. Bei mir war es Japanische Schwertkunst. Schon nach dem zweiten Mal hatte ich weniger Nackenschmerzen, das hat mich beflügelt. Wenn du dein Kopfkino dabei hast, dann machst du es gerne und baust es auch lieber in den Alltag ein. Ein anderes Beispiel: Du fährst liebend gerne Fahrrad. Also benutz’ es zum Einkaufen – verbinde Nützliches mit Gesundem.


Mehrere Jahre kein Sport - Sportmediziner gibt Tipps zum Wiedereinstieg


Die Essgelage im Dezember führen dazu, dass im Januar viele abnehmen wollen. Wie sollen sie das angehen?

Sport fängt im Kopf an und nicht in den Fettzellen. Das Hirn will spielen - und nicht abnehmen. Jeder Personal Trainer aber sagt dir: Du musst dich quälen, sonst wird das nichts. Lieber frage ich meine Patienten: Welches Ziel willst du verfolgen? Warum willst du überhaupt dünner werden? Vielleicht weil du beweglicher werden willst? Wenn es darum geht, sich wohlzufühlen, richten wir alles weitere doch daran aus. Wohlfühlen wird viel zu wenig geschätzt.

Physiotherapie: Gute Vorsätze - aber nicht fürs neue Jahr

Aber um Sport kommen wir nicht herum . . .

Mein Mann hat das schön formuliert: Ich fühle mich nicht wohl beim Sport, sondern hinterher.

Wie motiviere ich mich also?

Nur meine Knie- oder Rückenübungen zu machen, macht weder Spaß noch Sinn, weil ich etwas Freudloses schneller wieder aufgebe. Deshalb müssen wir Bewegung mit Kopfkino verbinden: Fußball, Kampfkunst, Tantra . . . Ich erwarte, dass mein Körper liefert beim Fußball, also tue ich etwas dafür, dass ich Fußball spielen kann und mache zum Beispiel die dafür nötigen Dehnübungen lieber. Mein Mann stellt sich auf den Crosstrainer und guckt dabei einen Film, der ihn interessiert. Ich selbst reite gerne und habe bemerkt, dass ich schief auf dem Pferd sitze. Also habe ich gerne Übungen gemacht, weil ich das korrigieren wollte.

Wenn ich keinen Lieblingssport habe? Wie finde ich heraus, was mir gut tut?

Achte auf Resonanzen: Was gefällt mir im Fernsehen? Schwimmen, Bogenschießen, Hundesport, Tauchen? Oder durchforste das Programm der Volkshochschule.

Helfen könnte doch auch eine Clique, mit der ich jede Woche Joggen oder zum Badminton gehe?

Definitiv - und vielleicht sogar mal ohne den Lebensgefährten, um einmal den Kopf frei zu haben von daheim.

Wobei man nicht in jedem Alter mit jeder Sportart beginnen kann, oder?

Zu diesem Thema habe ich derzeit eine tolle Patientin. Sie ist 80 Jahre alt und hat drei Rücken-OPs hinter sich - und treibt zum ersten Mal in ihrem Leben Sport, im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Sie zieht daraus ein wahnsinniges Selbstbewusstsein. Es gibt durchaus Möglichkeiten für ältere Menschen: Bogen- und Armbrustschießen, Kegeln, Schwimmen, Yoga. Einfach, um sie herauszuholen aus ihrem täglichen Einerlei. Diese Generation ist nicht geschult darin, sich wohltuend zu bewegen, sich etwas Gutes zu tun. Es gibt auch eine Tendenz zu sagen: Ich will mich nicht um die Ursachen des Schmerzes kümmern, ich will einfach, dass er weggeht. Da rate ich: Frag’ den Therapeuten, was du selbst tun kannst, um deinen Zustand zu verbessern und danach nicht in dessen Abhängigkeit zu geraten. Hole die Verantwortung für dich wieder zurück zu dir.

Manchmal ist es gar nicht so einfach, glücklich im eigenen Körper zu sein. Was schön und gesund ist, definiert mitunter die Gesellschaft und nicht wir selbst.

Viele denken über ihren Körper mechanisch, doch die Wahrheit ist: Wir bewohnen unseren Körper. Wenn wir uns damit bewegen wollen, müssen wir ihn pflegen wie einen Garten. Das heißt nicht andauernde Arbeit. Denn du kannst ihn auch schön verwildern lassen, du musst nicht schön sein für Instagram. Sich an ambitionierten Sportlern zu orientieren, die dem Sport alles unterordnen, erzeugt vielleicht ein Selbstbild, das gar nicht auf dich passt.


Fitnessparcours bei den Großeltern: So macht Sport mit den Enkeln Spaß


Und welches Selbstbild hat die Therapeutin Brigitte Görz von ihrem Beruf?

Er ist erstrebenswert - join the club! Denn es lohnt sich wieder mehr als vor einigen Jahren, als das Image war: du musst viel lernen und bekommst nur ein Hilfsarbeitergehalt. Endlich haben die Krankenkassen aufgestockt, und geistig ist es eine totale Erfüllung. Du kannst die Lebenssituation deiner Patienten verbessern und der Lohn ist oft - ausgerechnet in Franken - ein Lächeln.

Keine Kommentare