
Matthias Lochmann: "Zurück zum Spaß"
Herr Professor Lochmann, haben Sie ein traumatisches Jugendfußball-Erlebnis hinter sich, oder warum wollen Sie das ganze System reformieren?
Professor Matthias Lochmann: Ich selbst zum Glück nicht, aber viele Tausend Kinder in Deutschland, die niemand fragt, schon. Ich war lange Trainer, habe selbst Fußball gespielt. Mir war immer klar, dass im Jugendbereich einiges verkehrt läuft. Aber erleiden muss ich es erst, seitdem mein kleiner Sohn Fußball spielt.
Aber Sie sind doch selbst sein Trainer.
Lochmann: Es geht mir um alle Fußball spielende Kinder. Hier haben mir wenige Spiele genügt um zu erkennen, dass es so nicht weitergehen darf: Ein Wettkampfsystem, indem Trainer die Kinder wüst schimpfen, wenn sie Fehler machen, aber auch Kinder, die nur herumstehen auf dem Platz und ständig Anweisung von außen bekommen, was sie jetzt zu tun haben.
War das nicht schon immer so?
Lochmann: Ja, und das ist das eigentlich Unfassbare daran. Diese nicht gewollten Verhaltensweisen von Kindern, Trainern und Eltern werden durch die bestehenden Wettspielformen regelrecht provoziert, das Gewinnenwollen schon in kleinsten Jahrgangsstufen unterläuft massiv die Bemühungen von Tausenden engagierten Menschen. Es ist aus meiner Sicht der stärkste Bremsklotz für die Weiterentwicklung des Fußballs in Deutschland überhaupt.
Wo wollen Sie also anpacken?
Lochmann: Wir müssen die Wettspielformen grundlegend reformieren. Die Toranzahl, die Feldgröße, die Spieleranzahl, die Wechselsystematik, die Spielregeln und die Organisationsformen der Wettkämpfe müssen wir auf ein altersgemäßes, kindgerechtes Maß bringen. Wettkämpfe müssen zu einer optimalen Entwicklung der Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder führen.
Aber Beckenbauer, Matthäus, Cristiano Ronaldo, Messi – alle wurden im bestehenden, wettkampforientierten System zu Superstars. So schlecht kann das also nicht sein . . .
Lochmann: All diese Spieler haben sich nicht wegen dieses Systems, sondern trotz des Systems entwickelt. Sie hatten Freiräume, die Kinder heute kaum noch haben. Es waren Straßenfußballer, die den ganzen Tag Fußball spielten. Heute sind die Kinder sehr lange in und mit der Schule beschäftigt. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt, der gegen diesen Vergleich spricht.
Welchen?
Lochmann: Suchen wir immer nur nach Beckenbauers und Messis? Ist das der einzige Antrieb, unsere Kinder Fußball spielen zu lassen? Und selbst wenn es so wäre, wird der Pool an Nachwuchskickern aufgrund der geburtenschwachen Jahrgänge immer kleiner. Das Potential zum Profi hätten vielleicht viele, die aber in jungen Jahren durch irgendein Raster eines Trainers aufgrund der bestehenden Wettkampfordnung gefallen sind – und deshalb aufgehört haben mit Fußball. Wir müssen endlich alle gleichmäßig und altersgerecht fördern — dann werden wir Beckenbauers und Messis in einer Anzahl in Deutschland erhalten, wie es das Land noch nicht erlebt hat.
Und das funktioniert damit, dass der Leistungsgedanke vom Fußballfeld verschwindet?
Lochmann: Das tut er ja gar nicht. Die Anforderungen von „Funino“ liegen mehrfach höher als in einem üblichen Jugendfußballspiel. Nach sechs, sieben Minuten sind alle Kinder erst einmal ausgepowert – weil kein Einziger rumstehen musste obwohl kein Trainer auch nur einmal gebrüllt hat. Weil grundsätzlich bei Funino auf vier Tore gespielt wird, müssen Kinder ständig den Kopf hochnehmen und ein alternatives Ziel mit dem Ball am Fuß suchen. Das schult bereits in jungen Jahren viel intensiver als bisher die Handlungsschnelligkeit.
Dann ist die Professionalisierung der Förderung im Nachwuchsleistungszentrum verkehrt? Ihnen verdanken wir doch die Wiederauferstehung des deutschen Fußballs . . .
Lochmann: Da sind wir wieder bei der Aussortierung. Die kommt zu früh. Bei den 13-Jährigen etwa entscheidet oft die körperliche Entwicklung gegenüber Gleichaltrigen über ihren Verbleib im Leistungszentrum und nicht ihr technisch-taktisches Fertigkeitsniveau. Deshalb werden vor allem die Großgewachsenen früh überdurchschnittlich gefördert, dabei sind sie meistens nur früher im Jahr geboren und deshalb noch überlegen. Da frage ich Sie: Hat Gott nur den Frühgeborenen Fußballtalent geschenkt?
Sicher nicht.
Lochmann: Eben. Die Prognose, ob jemand Profi wird oder nicht entscheidet sich doch nicht in der C-Jugend. Das Aussortieren in der bestehenden Art und Weise ist daher schädlich für den gesamten Profifußball. Wie viele gute Fußballer verlieren wir, nur weil sie sich erst ein wenig später entwickeln? Es sind Tausende.
Gehört es aber nicht auch zur gesunden Entwicklung fürs Leben im Sport zu lernen, dass man sich auch mal durchbeißen muss?
Lochmann: Natürlich. Aber wenn ein kleiner Junge zehnmal gesagt bekommt, dass er am Wochenende nicht dabei sein kann, weil der Kader schon voll ist, dann wird er bald enttäuscht aufhören mit Fußball. Auch gibt es eine latente Spannung zwischen dem Trainer und den Eltern der Kinder, die zu einem Spiel fahren, aber nur auf der Bank sitzen. Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, wie sich dieses Nicht-gut-genug-sein auf die charakterliche Entwicklung der Kinder auswirkt. Was haben wir für ein Menschenbild, wenn wir dieses System, dessen Fehler wir kennen, weiter verfolgen?
Was passiert mit schwächeren Kindern bei Funino?
Lochmann: Hier können auch zwanzig Spieler aller Leistungsstärken mitmachen, aber auch nur kleine Dorfvereine mit nur vier Kindern, die bisher auf Spielgemeinschaften angewiesen waren – und alle bekommen die gleiche Einsatzzeit, weil nach jedem Tor beide Mannschaften durchrotieren. Je nach Alter und Entwicklungsstand werden die Felder größer oder kleiner, die Spieleranzahl nimmt zu oder ab, die Tore werden diagonal bespielt, umgedreht oder müssen durch Rückpässe erzielt werden. die Aufgaben werden komplexer. Der Fußball wächst mit den Kindern, systematisch.
Aber schafft man sich so nicht eine Blase, eine heile Jugendfußballwelt, die so neben allen anderen modernen Anforderungen existiert?
Lochmann: Das ist keine Blase, sondern eine ideale Plattform, um mit mehr Action, mehr Toren ein Höchstmaß an Selbstwirksamkeitserfahrung zu erleben. Alle Kinder können Tore schießen und sich so Selbstvertrauen holen, sie werden fitter, können schneller laufen, nehmen ab, verbessern radikal ihre Wahrnehmungsfähigkeit und lernen selbst richtige Entscheidungen zu treffen. Es macht sie zu Höchstleistern – und nicht zu Verlierern. Sie werden besser, obwohl niemand Zwang oder Druck ausübt. Es ist im Grunde ähnlich wie mit dem Regelschulsystem. Auch das zwingt Lehrer, Eltern und Kinder zu Verhaltensweisen, die sie im Grunde selbst tief verachten. Ich halte es daher ebenso reformbedürftig.
Erhoffen Sie sich durch Funino auch gleich, das ganze Schulsystem mitzureformieren?
Lochmann: Na ja, die negativen Folgen sind ähnlich: durch Überforderung erleiden Kinder Burn-out. Durch Bewegungsmangel werden sie motorisch schwach, werden übergewichtig. Hinzu kommt massiver Stress, weil sie – anders als im Fußball – nicht einfach aufhören können, sondern über Jahre in der Situation gefangen bleiben. Aber das ist ein anderes Thema.
Warum? Es gibt ja bereits Grundschulen, die Funino in den Sportunterricht integrieren wollen.
Lochmann: Ich finde, die Leute sollen sich selbst davon überzeugen, wie Funino auf sie wirkt. Wir haben auch im Kleinen in der G-Jugend begonnen, sind dann in den Verein, dann in die Grundschule gegangen, haben dann ein Funino-Festival veranstaltet – jetzt sind wir am nächsten Schritt, die Leute in der Region aufzusammeln, die diesen Weg mit uns gemeinsam gehen wollen. Deshalb laden wir sie zu einem Funino-Workshop an der Uni Erlangen ein, wo wir die vielen guten Ideen der engagierten Trainer, Eltern und Betreuer aus der Region aufgreifen werden, um das System weiter zu verbessern.
Braucht man für Funino eine spezielle Ausbildung?
Lochmann: Einer der großen Vorteile von Funino ist, dass es mit wenigen Handgriffen, ohne Vorerfahrungen, angewendet werden kann. Wir haben Grundschullehrerinnen, die nach dreißig Minuten ein Kinderfußballtraining anbieten können, das die Kinder lieben und das obendrein zu einer optimalen Förderung der Sechs- bis Zehnjährigen führt.
Kennen Sie Trainer, die Funino ablehnen?
Lochmann: Es gibt natürlich einige Trainer, die sich für sehr wirksam halten. Die bekommen in unserem Konzept ein Problem mit ihrem Selbstverständnis, wenn sie plötzlich in eine moderierende Rolle schlüpfen sollen. Das ist dann eine Frage der Souveränität und der Eitelkeit. Aber arbeiten diese Personen für sich – oder für die Kinder?
Brauchen Kinder keine Anleitung?
Lochmann: Natürlich. Aber wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, auf dem Fußballplatz eigene Kompetenzen fürs Leben zu erwerben. Wir wollen die Kinder fit machen für unsere Welt. Auf dem Platz geht es um mehr als nur eine fußballerische Ausbildung. Wir wollen ihnen einen Entfaltungsraum geben, in dem sie Handlungsalternativen kennenlernen und die bestmögliche Lösung selbst herausfinden müssen – die Lösungswege müssen aber altersgerecht sein. Das sind sie derzeit nicht.
Spüren Sie schon erste Erfolge?
Lochmann: In der Jugend von Mainz 05 haben die Jungs nach sechs Monaten gespielt wie die Teufel, bis zur Halbsaison 117 Tore geschossen, das war unglaublich. Bei der G- Jugend meines Sohnes gibt es nur meine subjektiven Eindrücke. Hier spüre ich, dass ich ein echter Freund der Eltern und der Kinder geworden bin. Es gibt keinen, ob Mädchen oder Junge, ob klein oder groß, guter oder schlechterer Fußballer, der nicht gern „Hallo“ zu mir sagt.
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