Deutschland steht vor Neuwahlen. Doch der Rechtsruck macht Sorge und gefährdet unsere Demokratie.
© IMAGO/Udo Herrmann/IMAGO/Herrmann Agenturfotografie
Deutschland steht vor Neuwahlen. Doch der Rechtsruck macht Sorge und gefährdet unsere Demokratie.

Kommentar

Was gestern tabu war, ist heute sagbar geworden: Wir müssen uns gegen die Rechten wehren!

Das neue Jahr startet mit heftigen politischen Turbulenzen, in Deutschland, in Europa, weltweit. Vertraute Gesellschaftsstrukturen bröckeln, Demokratien sind in Gefahr, längst abgeschaffte Staatsformen aus dem vorvorletzten Jahrhundert gelten nun als erstrebenswert: Die Brandstifter wollen Imperien wie das Zarenreich zurück.

Das alles ´hat Auswirkungen auf unsere Kultur. Die groteske Polarisierung in der Meinungsbildung verwischt die Graustufen, die unser Zusammenleben so wertvoll machen, zwischen der propagierten "Wahrheit" und der Wirklichkeit klafft oftmals ein großes Loch. Doch Rechtspopulisten und Rechtsextreme, die unser Klima stetig vergiften, gewinnen immer mehr Anhänger. Schleichend haben sie ihr teils menschenverachtendes Gedankengut in die Köpfe sickern lassen - und wir haben uns bisher kaum gewehrt.

Was gestern noch tabu war, weil es die Menschenwürde und den Frieden, in dem wir leben durften, gefährdet hätte, ist heute sagbar geworden. Wir sollen die "Grenzen dicht machen", einen Plan zur "Remigration" bejubeln, es ist von "Umvolkung" und von "Deutschland den Deutschen" die Rede. Wo bitte bleibt der Aufschrei?

Zwar sorgen Lügen, demagogische Hetze oder Verschwörungserzählungen kurzzeitig für Empörungen, doch sie sind meist nach ein paar Tagen vergessen. Längst ist ein Gewöhnungseffekt eingetreten. Soziologen wie Wilhelm Heitmeyer nennen das einen "Normalisierungsgewinn, der die demokratische Kultur aushöhlt". Immer neue Provokationen und Skandale lassen sich mittlerweile gut verkaufen, bringen Stimmen - verdrängen aber andere, vielleicht wichtigere Themen.

Parteien der Mitte haben zuletzt eine schlechte Performance geliefert

An diesem Zustand tragen die Parteien der Mitte eine gehörige Portion Mitschuld, weil sie zuletzt in der Regierung keine überzeugende Performance geliefert und die Ängste der Bevölkerung zu wenig ernst genommen haben. Doch die, die nichts als Hass und Hetze im Angebot haben, können erst recht keine tauglichen Rezepte vorlegen, wie wir die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen: wie Wirtschaft und Sozialstaat dauerhaft stabilisiert werden, wie wir nötige Zuwanderung sinnvoll regeln können, wie Kommunen zu mehr Geld kommen, um ihre maroden Schulen zu sanieren, wie bezahlbarer Wohnraum entstehen soll.

Vor einem Jahr waren es viele Tausende, die auf die Straße gegangen sind, als der Plan von Neonazis und AfD-Politikern bekannt geworden ist, Menschen mit migrantischen Wurzeln zwangsweise abzuschieben. Und heute? Wir müssen wieder aufstehen und denen die Rote Karte zeigen, die unser erprobtes System überwinden wollen. Dagegenhalten, wenn sie Unwörter aussprechen. Der SPD-Politiker Carlo Schmid sagte in seiner Rede 1948 vor dem Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz erarbeitete: Um Gleichheit und Freiheit zu verteidigen, müsse man "den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen". 77 Jahre später brauchen wir diesen Mut. Wieder.

Keine Kommentare