Anonyme Accounts mobilisieren
Telegram-Rätsel: Immer mehr "Corona-Spaziergänge" - aber woher kommen die Teilnehmer?
14.1.2022, 05:55 UhrEs geht um verlorene Schlüssel, Einkaufstouren, um "etwas Bewegung an der frischen Luft". Die vorgeschobenen Gründe, warum Menschen derzeit vermeintlich spontan gegen Pandemiemaßnahmen auf die Straße gehen, sind teilweise grotesk - zum Beispiel, wenn die "Einkaufstour" an einem Feiertag stattfindet.
Überall in Bayern treffen sich Woche für Woche Menschen zu unangemeldeten "Corona-Spaziergängen". Es ist ein Euphemismus für Kundgebungen, die es nicht geben dürfte.
Allein am vergangenen Montag schlossen sich in Mittelfranken Tausende solchen als Spaziergänge getarnten Demonstrationen an. In Neustadt an der Aisch waren es beispielsweise 1000 Teilnehmer, in Gunzenhausen 500, in Bad Windsheim 300 und in Hersbruck 250. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Das zuständige Polizeipräsidium bestätigt, dass die Zahl der Corona-Demos seit Wochen zunimmt. In den letzten sechs Wochen waren es in Mittelfranken rund 160 Kundgebungen mit 60.000 Protestierenden. Auch im Rest Bayerns gehen immer mehr Maßnahmenkritiker auf die Straße. "Das hat Anfang Dezember stark an Fahrt aufgenommen und sich dann auf einem hohen Level stabilisiert", sagt Michael Siefener, Sprecher des Innenministeriums. Allein vergangenen Montag seien 130 Versammlungen mit 55.000 Teilnehmern im Freistaat erfasst worden.
Rechte Multiplikatoren und Massenaufrufe
Die Demonstranten, die immer wieder pauschal als "Querdenker" bezeichnet werden, sind vernetzt - und ihre Gründe für den Protest divers. Über Telegram kündigen anonyme Accounts mittlerweile "Spaziergänge" in über 250 bayerischen Städten an, vom Allgäu bis ins nördlichste Unterfranken. So wollen die Maßnahmenkritiker den Eindruck erwecken, sie seien eine gewaltige Bewegung. Tatsächlich laufen viele Ankündigungen aber ins Leere. Manchmal treffen sich Hunderte, oft aber auch niemand.
"Allein die Teilnahme von bekannten Rednern dieser Szene kann eine überregionale Mobilisierung zur Folge haben", erklärt Michael Konrad, Sprecher der mittelfränkischen Polizei. Dann, wenn große Multiplikatoren für die Spaziergänge werben, kommen oft Hunderte, manchmal auch Tausende Demo-Touristen aus ganz Deutschland. Konrad sagt: "Sie haben nicht unbedingt einen lokalen Bezug zum Versammlungsort."
"Das ist absolut keine homogene Gruppe"
Oft kommen die Multiplikatoren, die einen kleinen Spaziergang zum großen Protest anschwellen lassen, aus der rechten Szene. Die extreme Kleinstpartei III. Weg ruft etwa regelmäßig zu Corona-Demos auf, auch die Pegida-Bewegung und die NPD sind aktiv. Tatsächlich stammt der Großteil der Teilnehmer aber eher aus der bürgerlichen Mitte, auch linke Transparente habe man bei den Kundgebungen schon gesichtet, sagt Polizeisprecher Konrad. "Das ist absolut keine homogene Gruppe."
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Die Polizei steht immer wieder vor einem Rätsel. Beispielsweise in Neustadt, wo sich seit zwei Wochen plötzlich jeden Montag hunderte Demonstranten versammeln. Zwar mobilisierte dort auch der III. Weg. "Das war aber nicht auf Neustadt gemünzt", sagt Siegfried Archut, Leiter der örtlichen Polizeiinspektion. Zwar seien wohl Flyer der rechten Partei verteilt worden, aber: "Wir haben keine Akteure aus der Gruppe beobachten können." Stattdessen seien viele Familien mit Kindern am Montagabend auf der Straße gewesen. Woher der Protest auf einmal kommt, kann sich keiner so recht erklären.
Woher kamen 1000 Menschen in Neustadt?
Die Demonstrierenden in Neustadt bestehen darauf, keine Versammlung zu sein. Das bewertet die Polizei aber anders. Auch wenn der Protest nicht offiziell als Demo angemeldet ist, gelten strenge Regeln. Besonders den Veranstaltern droht ein empfindliches Bußgeld von bis zu 3000 Euro. Ob auch die Teilnehmer belangt werden, entscheidet das zuständige Ordnungsamt.
In München etwa leiteten die Behörden nach einem Spaziergang Ende Dezember 700 Bußgeldverfahren ein. In Mittelfranken gab es eine solche Welle nach Informationen unserer Redaktion bislang noch nicht. Die Spaziergänger blieben bisher größtenteils straffrei.
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Mit Allgemeinverfügungen versuchen immer mehr Städte, die vermeintlichen Spontan-Proteste zu verbieten oder einzudämmen. Polizeisprecher Konrad spricht dabei von einer "schwierigen Abwägung", gerade bei Verstößen gegen Mindestabstände und gegen die Maskenpflicht. "Über allem schwebt die Infektionsgefahr", erklärt er, "aber das sind Ordnungswidrigkeiten." Dann, wenn sich der Großteil an Auflagen hält, könne man eine Demonstration nicht einfach so auflösen. "Die Versammlungsfreiheit ist ein geschütztes Grundrecht. Da wir diese Spaziergänge als Versammlungen einstufen, unterfallen diese folglich auch dem Schutzcharakter des Versammlungsrechts."
Erst dann, wenn es zu ausufernder Gewalt kommt, können Demonstrationen gestoppt werden. In Schweinfurt etwa konfiszierte die Polizei zuletzt mehrere Messer, Beamte wurden attackiert, einige ernsthaft verletzt.
In Mittelfranken blieb es bislang aber ruhig. Auch künftig setzt das Präsidium Mittelfranken auf Umsicht bei Corona-Demos. "Wir bewerten das als Polizei nicht nach dem Inhalt, sondern daran, ob die rechtlichen Bedingungen erfüllt sind", so Konrad.
Für die Behörden sind die regelmäßigen Demonstrationen ein Kraftakt. "Das ist eine sehr belastende Situation besonders für die bayerische Bereitschaftspolizei, deren Einsatzzüge täglich eingebunden sind", sagt Siefener vom Innenministerium.
Zwar wurde Personal aufgestockt, so lasse sich die Protest-Flut einigermaßen bewältigen. "Wenn beispielsweise aber die Pläne zur Impfpflicht konkretisiert werden, kann es sein, dass das eine neue Mobilisierungswelle hervorruft."
Auf Telegram, Facebook und einschlägigen Messengerdiensten scharren Maßnahmenkritiker bereits mit den Hufen. Aus dem Innenministerium heißt es: "Die Lage ist sehr volatil."