Keine Krankheit und keine geistige Behinderung: frühkindlicher Autismus
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Wenn die Software nicht zur Welt passt

Keine Krankheit und keine geistige Behinderung: frühkindlicher Autismus

Doch jammern hört man die Haunritzerin nicht. „Ich bin dankbar für meine Kinder, weil sie können alle jeden Tag aufstehen, herumtollen und sind nicht todkrank.“ Dabei muss fast jedes der vier mit einem Manko umgehen – der 21-Jährige, der 15-Jährige und Fabio mit seinen viereinhalb Jahren mit frühkindlichem Autismus. Daneben braucht auch das Nesthäkchen Elisa mit zweieinhalb Jahren die Aufmerksamkeit der Alleinerziehenden.

Schwer sei das manchmal, für jeden da zu sein. Bei den Großen ist Pecher das, wenn die Kleinen im Bett sind. „Aber eigentlich fehlt immer die Zeit.“ Auch die für sich selbst. Die Produktmanagerin in Elternzeit hat Rheuma, bräuchte laut behandelndem Arzt „eine einsame Insel und tägliche Therapie“. Das entlockt Pecher nur ein Lächeln: „Jetzt ist die Zeit meiner Kinder, dann kommt meine.“ Denn ihr Nachwuchs sei ihr ein und alles. Fabio weggeben, der Gedanke sei ihr nie gekommen.

Mit Helm in der Ecke

Vor allem aus einem Grund: Ein Autist sei für sie immer wie jemand aus einem Film gewesen, einer, der in einer Ecke vor sich hinschaukelt und einen Helm aufhat. „Das war und ist aber nicht mein Kind.“ Denn nach der Geburt entwickelte sich der kleine Fabio zunächst normal; er begann sich fortzubewegen und zu brabbeln. „Von heute auf morgen war damit Schluss“, erinnert sich Pecher. Da war er ungefähr ein Jahr alt.

Anschaulich und wie als ob es gestern gewesen wäre, schildert sie seine abrupte Wesensveränderung: Er sprach nichts mehr, zeigte keine Gesten mehr, hörte nicht auf seinen Namen, lief nur auf Zehenspitzen, konnte selten Blickkontakt halten. Im Rückblick ist ihr heute klar, dass er bereits als Baby erste Anzeichen zeigte: „Er hat da schon Veränderungen, wie den Besuch bei der Oma oder so, schlecht ertragen, und auch der Supermarkt war ihm zu laut, weil er die Geräusche nicht filtern kann.“ Doch weil sie keine hypervorsichtige Übermama ist, stempelte sie vieles erstmal unter „kommt schon noch“ ab. Zumal die Kinderärztin ebenfalls keine Panik zeigte und die U7 mit zwei Jahren abwarten wollte.

Der „Schlag ins Gesicht“ kam mit der Krippe, die Fabio mit zwei Jahren besuchte. Eine der Erzieherinnen war vorher in einem heilpädagogischen Zentrum tätig gewesen. Als sie bemerkte, dass der Junge keine Berührungen von Fremden ertrug und nicht am Morgenkreis teilnahm, sprach sie Pecher an, äußerte ihre Vermutung. Pecher googelte, las sich ein: „Plötzlich hatte das ganze Bild einen Rahmen.“ Bestätigung brachten – teilweise nach monatelanger Wartezeit – diverse Untersuchungen bei Kinderarzt, Neurologen und im Autismus-Mekka Augsburg: frühkindlicher Autismus, weil er vor dem dritten Lebensjahr auftritt; eine schwere Form, weil sie die Sprache betrifft. „Dass keine Kommunikation da war, das war das Schlimmste.“

Spannende Persönlichkeit

Neben den Fakten der Mediziner sammelte Pecher selbst viele Informationen: „Ich gehe den Sachen auf den Grund.“ Das habe bei ihr das Verständnis für diesen „spannenden, manchmal komischen Menschen“, wie Pecher ihren Sohn humorvoll beschreibt, geweckt. Sie lernte, dass Autismus zwar vererblich ist und damit „eine genetische Sache“, aber keine Krankheit. „Es ist eine seelische Behinderung, keine geistige.“ Wie als ob die Software einfach anders ist, so Pecher. „Kennst du einen Autisten, dann kennst du auch nur einen Autisten, weil jeder andere Probleme hat.“

Fabio beispielsweise habe eine starke Weglauf-Tendenz. „Wir sind ans Haus gebunden. Corona-Verhältnisse habe ich sozusagen jeden Tag.“ Zu viele Geräusche und Eindrücke führen bei dem Jungen zu einer Überreizung. Spontaneität – Fehlanzeige. „Wenn ich Sachen ankündige, muss ich überlegen, ob ein Tag vorher zu lang ist, weil er sich dann zu viele Gedanken macht.“ Eine Gratwanderung. Das Essen muss getrennt sein am Teller, die Tassen immer gleich, die Kleidung ohne Nähte und in fünffacher Ausführung vorhanden sein, falls sie mal dreckig wird, und der Alltag eine feste Routine. „Man muss das ganze Leben umstellen und anpassen, an tausend Sachen denken und unglaublich viel Geduld haben“, macht Pecher klar, „aber man wächst mit seinen Aufgaben“.

Dass dieses Korsett, diese Rücksichtnahme für die Geschwister nicht einfach ist, daraus macht Pecher keinen Hehl. „Neid gibt es nicht, aber so Kleinigkeiten wie Spielplatz, ein Spaziergang oder gar Zoobesuch wären schon schön.“ Dennoch findet sie, dass das Quartett voneinander lernt. Vor allem Fabio und Elisa könnten oft gut zusammen spielen. Sie sei daher für die Unterstützung ihrer Mama unendlich dankbar. „Ohne sie würde ich das nicht schaffen.“ Klar sei diese auch zuerst geschockt gewesen. „Cool aufgenommen“ hätten die Diagnose damals die Nachbarn, die sie mit Flyern über Autismus versorgt hatte. „Fabio ist oft sehr laut und schreit viel und es soll ja keiner denken, ich schlage mein Kind.“

Wie ein trotziges Kind

Denn ein großes Problem sei, dass die Menschen zu schnell urteilen würden. „Fabio sieht man Autismus nicht an. Wenn ihm „unsere Welt“ zu viel wird, dann wirft er sich auf den Boden, speichelt, schreit und verletzt sich selbst.“ Wie ein kleines trotziges Kind. Für solche Szenen ernte man in der Öffentlichkeit böse oder vorwurfsvolle Blicke, keine mitleidigen wie bei einem Jungen im Rollstuhl. Pecher wünscht sich, dass Menschen dann zwei Mal hinschauen, überlegen und vielleicht sogar Hilfe anbieten in diesen Augenblicken der Hilflosigkeit

„In einem solchen Moment bricht in Fabio nämlich eine Welt zusammen.“ Overload heißen diese Wutanfälle, die eine Überreizung der Sinne sind und sich bis zum Meltdown steigern können. „Das ist das Schlimmste, das habe ich Gott sei Dank noch nicht oft erleben müssen.“ Innerhalb von wenigen Sekunden rastet Fabio völlig aus, verwüstet die Wohnung – bis hin zur Selbstverletzung. Im Blick lägen pure Verzweiflung, Angst, ein „Bitte hilf mir“. Forscher haben herausgefunden, berichtet Pecher, dass die Autisten in diesem Moment Gefühle haben wie Menschen sonst bei Krieg, Folter oder Vergewaltigung.

Lernen über Videos

30 Minuten dauert so ein Zustand etwa. 30 Minuten, in denen Pecher nichts tun kann außer das Kind vor sich selbst zu schützen, abwarten, leise sein, Reize minimieren. „Man kommt nicht mehr an ihn ran, steht hilflos daneben und das bricht mir das Herz.“ Das Lachen ihrer Kinder und die lebenslustige, fröhliche Art ihres Spitzbuben machen diese schweren Momente wieder wett. „Mein Autist“, nennt sie ihn liebevoll. Er bringe sich so viel über YouTube-Videos selbst bei, erzählt sie begeistert. „Ja, da musste ich meine erzieherischen Vorsätze über Bord werfen“, gibt Pecher schmunzelnd zu. Aber auf diese Weise könne er zum Beispiel Farben und Zahlen in verschiedenen Sprachen.

Und noch etwas gibt ihr Kraft: Teil der Gemeinde zu sein. Kurz vor Weihnachten überraschte Bürgermeister Reiner Pickel die Familie mit einer Spende aus dem Gemeinderat. „Das war so klasse, weil es so unbürokratisch war und mir gezeigt hat, dass wir, dass Fabio nicht aus der Bürgerschaft ausgeschlossen wird.“ Mit den hundert Euro schaffte Pecher zwei Sensorikschaukeln an. Sie verschweigt nicht, dass die spezielle Betreuung ihres Sohnes Geld kostet. „Ich muss ja gewissermaßen den Spielplatz herholen.“

Christbaum war zu viel

Die Schaukel komme bei Fabio, der sich wie andere Autisten gut maskieren, also bis zu einem bestimmten Grad anpassen könne, gut an. „Wenn es ihm zu viel wird, dann zieht er sich dort in seine eigene Welt zurück.“ Wo er früher ausgeflippt sei, weil plötzlich ein Weihnachtsbaum im Zimmer stand oder zwei Tische mehr fürs Kaffeetrinken bei der Konfirmation, da klinke er sich inzwischen selbst aus.

Das sei ein Erfolg der Amberger Lebenshilfe. Dort besucht Fabio den ganzen Tag die schulvorbereitende Einrichtung mit ihren beiden Autistengruppen. Auch Logopädie, Physio- und Ergotherapie erhalte er dort. Das Konzept der Einrichtung verfolge den Teach-Ansatz, dass die Kinder selbstständig werden, und zwar über feste Strukturen. Kann das gelingen? „Er ist ja sehr intelligent und hat sich bis heute schon super entwickelt.“ Die Betreuer meinen, er könne eine normale Schule besuchen, wenn er eine Zusatzkraft zur Seite gestellt bekommt. Für Katrin Pecher ist es gerade schwer vorstellbar, sagt sie offen. Später vielleicht. Und dieser Gedanke „beruhigt etwas, aber bis dahin wird es ein harter Weg“.

Infos und Hilfe gibt es beim Netzwerk Autismus oder bei Autismus Deutschland sowie im Internet unter https://autismus-kultur.de oder auf dem Blog https://ellasblog.de