Zwischen Knast und Gnade: Jugendrichterin über ihren Alltag
20.11.2019, 06:46 UhrAcht von zehn Jura-Studenten saßen schon mal ohne Ticket in der U-Bahn oder im Zug. 60 Prozent gaben zu, schon einmal illegal Software kopiert zu haben – und über die Hälfte der Jura-Studenten hatte bereits gekifft: Vor mehr als zehn Jahren sorgten die Forschungsergebnisse des Tübinger Juraprofessors Jörg Kinzig für Aufsehen: Fast jeder seiner Studenten schilderte, schon einmal ein kleineres Delikt verübt zu haben. Ihr makelloses Führungszeugnis behielten die Studenten dennoch – schließlich ist die Voraussetzung dafür, kriminell genannt zu werden, auch erwischt zu werden.
Die Ergebnisse des Professors decken sich mit der Dunkelfeldforschung der Kriminologie: 90 bis 95 Prozent aller männlichen Jugendlichen begehen kleinere Straftaten – sie stehlen, werden handgreiflich, fahren schwarz U-Bahn oder beleidigen andere. Diese Zahlen mögen im ersten Moment schockieren – doch die wenigsten dieser Taten werden polizeibekannt, und die meisten Jugendlichen stellen ihr delinquentes Verhalten auch ohne staatliche Sanktion von selbst ein. Landet ein Jugendlicher vor Gericht, stehen Jugendrichter vor einer Herausforderung, sagt Christine Wehrer, Leiterin der Jugendabteilung am Amtsgericht Nürnberg und zugleich Chefin der hiesigen Jugendarrestanstalt. Die Richter müssen herausfinden, ob sie es mit einer haltlosen jungen Person zu tun haben, die sich nicht um Regeln schert – oder ob sie einen Durchgangskandidaten vor sich haben.
Zuschauer müssen draußen bleiben
Das Jugendstrafrecht gilt für Jugendliche (14- bis 17-Jährige) und zum Teil, etwa weil Reiferückstände vorliegen, auch für Heranwachsende im Alter von 18- bis 20 Jahren. Wie das derzeit laufende Strafverfahren um die Tragödie an der S-Bahn-Station Frankenstadion zeigt, sind Prozesse gegen Jugendliche grundsätzlich nicht öffentlich – "und das ist gut so", sagt Wehrer. Sie denkt dabei nicht nur an den Medienrummel, der etwa im Fall des S-Bahn-Prozesses zu erwarten wäre und die Familien der Beteiligten belasten würde. In anderen Fällen ist leicht vorstellbar, wie viel schwerer es für Angeklagte wäre, Reue zu zeigen – wenn gleichzeitig im Saal die Kumpels als Zuschauer feixen. "Verzerrende Einflüsse von Zuschauern werden vermieden, das Gericht ist eher in der Lage, sich ein Bild über die geistige Reife des Angeklagten zu machen", so Richterin Wehrer. Jugendliche seien häufig naiv und leicht zu beeinflussen.
Erst jüngst saß ein Minderjähriger vor der Richterin. Er hatte eine Party besucht, sich dort betrunken und im Übermut einen fremden Autoschlüssel entwendet. Er unternahm eine Spritztour – nun brachte ihn Fahren ohne Fahrerlaubnis, dazu Gefährdung des Straßenverkehrs (er verursachte einige Blechschäden) und unerlaubtes Entfernen vom Unfallort vor Gericht. Verheult und zerknirscht saß er im Saal, seine Familie nahm im Zuschauerraum Platz. "Vermutlich", so die Richterin, "wurden ihm zu Hause ordentlich die Leviten gelesen". Eine sich anbahnende kriminelle Karriere sieht anders aus.
Richter können Facebook-Verbot verhängen
In vielen Verfahren spielt Alkohol eine Schlüsselrolle. Immer wieder eskalieren Streitereien in der Disco. Erst wird getrunken, dann geschubst – und all dies befeuert vom Gruppendruck. Nicht immer wollen die Täter gemein sein, meist wird wenig nachgedacht und manchmal kommen tragische Umstände hinzu. Das Jugendrecht fordert, Jugendliche und Heranwachsende nur soweit zu bestrafen, wie es erzieherisch notwendig ist. Das Jugendgericht kann Täter-Opfer-Gespräche oder ein Anti-Aggressions-Training verordnen, Sozialgesellschaft zurückzugewinnen.
Übermäßige Züchtigung soll ihm nicht die Selbstachtung austreiben. Deshalb hält der Werkzeugkasten der Jugendrichter viele Instrumente bereit: Die Sanktionsbreite ist erheblich größer als im Strafrecht für Erwachsene. Fällt der Jugendliche als Drogenkäufer im Bahnhof oder als Schläger im Stadion auf, kann ihm untersagt werden, diese Orte zu betreten. Wer via Facebook beleidigt hat, kann ein Verbot erhalten, das soziale Medium zu benutzen. Selbst die richterliche Auflage, die Freundesclique zu wechseln, ist möglich. Juristin Wehrer sieht dies kritisch: "Woher soll mit einem Fingerschnipps ein neuer Freundeskreis kommen?"
Zehn Jahre Haft sind das höchste Strafmaß
Und freilich nehmen vor Gericht nicht nur Jugendliche aus schwierigen Elternhäusern Platz, sondern auch Wohlstandsverwahrloste – doch das beste Rezept gegen Jugendkriminalität sei wohl Rückhalt im Elternhaus. Geraten Jugendliche immer wieder ins Visier der Polizei, etwa weil sie Einbrüche begingen oder mehrere Einträge wegen Drogendelikten haben, ist von "schädlichen Neigungen" die Rede. In diesen Fällen oder wenn die Schuld schwer ist und die Folgen einer Tat schwer wiegen, können Jugendstrafen verhängt werden – nach oben hin ist die Jugendstrafe auf höchstens zehn Jahre begrenzt.
Selbst einen "Knast auf Probe" kennt das Jugendrecht. Beim Warnschussarrest etwa wird eine Arreststrafe mit einer Bewährungsstrafe gekoppelt – man will vermeiden, dass Jugendliche, deren Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurden, glauben, mit einem "Freispruch zweiter Klasse" davon gekommen zu sein. Richterin Wehrer ist sicher, dass in den meisten Fällen ein Freizeit- oder ein Dauerarrest abschreckend wirkt – "viele sagen, sie wollen da nicht mehr rein". Doch das heißt nicht, dass es klappt.
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