Projekt #Everynamecounts
#Everynamecounts: Freiwillige sichern KZ-Akten für Online-Archiv
7.6.2021, 10:43 UhrWer warst Du?
Teodor Slowacznik trug die Häftlingsnummer 48142 und war 24 Jahre alt, als er 1944 vom Konzentrationslager Auschwitz nach Buchenwald überstellt wurde. Er stammte aus dem Ort Kalne und hatte eine Frau und ein Kind. Was man ihm genau vorwarf? Die gelbliche Häftlingskarte auf dem Bildschirm verrät das nicht. Auch ein Foto fehlt.
Genau wie eine Antwort auf die Frage, ob er das Grauen in zwei KZs überlebte, oder was aus seiner Frau Maria und ihrem gemeinsamen Kind wurde. Ob sie sich jemals wiedersahen? Lebt das Kind noch, hat Teodor Slowacznik irgendwo auf der Welt Enkel und Urenkel?
Diese Fragen hätte sich wohl niemand gestellt, wenn es gelungen wäre, verblichene Karteikarten wie diese mit Hilfe künstlicher Intelligenz zu digitalisieren. So aber muss es als Glücksfall bezeichnet werden, dass Algorithmen an den handgeschriebenen Einträgen, den Durchstreichungen, den vielen Stift- und Schriftarten gescheitert sind. Denn die Idee, die dann entstand, ist so einfach wie genial, so gewaltig wie berührend.
In den Händen aller
#Everynamecounts, jeder Name zählt, heißt das Projekt der Arolsen Archives, eines internationalen Zentrums zur NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Seit dem vergangenen Jahr kann hier jeder mit einem Rechner und einem Internetzugang mitarbeiten.
Am Ende sollen die rund 30 Millionen Dokumente, die in den Archiven lagern, dauerhaft gesichert und digital durchsuchbar sein. Von Forschenden, aber auch von Angehörigen der Opfer. In den Häftlingskarten, Transportlisten, Registrierungsunterlagen sind die Namen und damit teilweise auch die Schicksale von rund 17,5 Millionen Menschen in der NS-Zeit erfasst.
Diese Zeugnisse legt #Everynamecounts in die Hände von Jedermann. Nicht säuberlich aufbereitet und kuratiert, sondern roh und ungefiltert, manchmal schwer zu entziffern. Für das, was die Nazis zu Teodor Slowacznik notierten, aber ein Stück weit auch für seine Würde, ist in diesem Moment kein Archivar, keine Historikerin verantwortlich. Sondern derjenige, auf dessen Bildschirm seine Häftlingskarte erscheint. Dass zwei Menschen, der eine im KZ, der andere im Hier und Jetzt, so unmittelbar und zufällig miteinander verbunden werden, entfaltet emotionale Wucht.
"Ich bekomme Gänsehaut"
Marie Wölki hat an ihrem ersten Tag wie wie eine Besessene durchgearbeitet, zwölf Stunden am Stück. "In der Nacht konnte ich nicht schlafen." Nach zwei Tagen waren 1300 Karten digitalisiert. Mittlerweile nimmt sie sich abends nach der Arbeit ein bis zwei Stunden Zeit, oft gemeinsam mit ihrer Mutter. "Wir tauschen uns aus und reden."
Die Verhafteten und Verschleppten, die Ermordeten und Gequälten sind keine Zahlenberge mehr, sie werden wieder zu Einzelpersonen – und kommen der 20-Jährigen nahe. "Ich stell mir schnell vor, was die durchlitten haben, wie es ihnen ergangen ist." Dass der Fernseher nebenbei läuft, erträgt sie nicht. "Und ich kann dabei nie essen." Manchmal, sagt sie, müsse sie eine Pause machen.
"Das Projekt rennt überall offene Türen ein", sagt Anke Münster, Pressesprecherin der Arolsen Archives. "Es heißt schließlich immer, was kann ich denn machen, damit das nicht mehr passiert?" Rund 18 000 User sind weltweit mittlerweile registriert, mindestens genauso viele helfen anonym mit. Das Bedürfnis, gegen das Vergessen anzugehen, ist groß. "Wir sehen das an der Zahl der bearbeiteten Dokumente", sagt Münster. "Die steigt stetig an." In diesem Jahr sollen auch Schulen noch stärker mit ins Boot geholt werden.
"Es ist einfach anders als das, was man in Geschichtsbüchern liest", bestätigt Elisa Russo. "Für die ersten Karten habe ich sehr lang gebraucht. Ich wollte mir die Person dazu vorstellen", sagt die Gymnasiastin aus Erlangen.
Die 18-jährige Italienerin hat als Stipendiatin der Start-Stiftung vom Projekt erfahren. "Ich halte es für ein Muss und eine Selbstverständlichkeit, hier mitzumachen", sagt die Gymnasiastin, die auch ihre Seminararbeit über die Kunst von Holocaust-Opfern schreiben wird. "Ich kann dazu beitragen, dass Verwandte der Opfer Informationen finden. Hinter diesen Dokumenten stecken Personen mit Gefühlen. Viele waren um die 20, manche auch erst zwölf oder 13. Da bekomme ich Gänsehaut."
So erleben es fast alle Beteiligten. "Manche recherchieren auf eigene Faust weiter zu den Schicksalen der Personen", sagt Anke Münster. Oder es schließen sich Generationen zusammen. "Die Großmutter, die die alte Schrift gut entziffern kann und die Enkelin, die sich mit dem Computer auskennt."
Der richtige Moment
Das Schwierigste beim Mitmachen ist vielleicht, den richtigen Moment zu finden. Mal schnell zwischendurch ein paar Karten abtippen – das funktioniert emotional für die Meisten nicht. "Ich muss es am Abend machen, ich brauche dazu Ruhe", sagt Russo. Alles andere ist jedoch einfach.
Nach nur wenigen Klicks – eine Registrierung ist möglich, aber nicht zwingend – erscheint eine Häftlingskarte. Namen, Anschriften, Häftlingsnummer, Haftgrund, Angaben zu Verwandten: Die Informationen werden in ein digitales Formular übertragen und abgeschickt. Schon nach wenigen Minuten ist eine durchschnittliche Karte bearbeitet. Damit die Einträge auch stimmen, wird jedes Dokument per Zufallsgenerator drei Bearbeitern zugespielt.
Stimmen mindestens zwei Einträge anschließend überein, gelten die Angaben als korrekt. Die anderen gehen in eine händische Qualitätskontrolle. "Ziel ist es, die Erfassung so einfach und barrierefrei wie möglich zu gestalten, mit optimalen Erklärungen", sagt Münster.
Der Name bleibt
Die Nürnberger Nachrichen sind Medienpartner des Nürnberg Digital Festivals 2021. Hier finden Sie weitere Beiträge rund um das Nürnberg Digital Festival.
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Über das weitere Schicksal von Teodor Slowacznik und seiner Familie schweigt seine Häftlingskarte. Aber das Archiv hält noch mehr Dokumente zu ihm bereit. Sein Name lässt sich - wie viele andere auch - jetzt auch online suchen. Mehrere Dokumente sind zu seinem Namen hinterlegt.
Auf einer früheren Häftlingskarte ist da dann doch noch ein Foto. Ein ernster junger Mann blickt in die Kamera. Er war Bäcker, kann man nachlesen - und hatte Plattfüße. Ein ganz normaler Mensch. Sollte er oder sein Kind überlebt haben, könnte jetzt sein Urenkel von jedem Ort der Welt in den Archiven nach den Dokumenten suchen.
Vielleicht ist es der einzige Triumph über die Nazis, der Teodor Slowacznik geblieben ist: Sein Name ist nicht ausradiert, sondern Teil eines digitalen Denkmals. Teodor Slowacznik ist nicht vergessen.
Hier geht es zur Webseite des Projekts. Am 15. Juli 2021 von 18-20 Uhr stellen die Nürnberger Nachrichten beim Nürnberg Digital Festival gemeinsam mit den Arolsen Archives #Everynamecounts in einem kostenlosen Webinar vor. Alle Infos und der Zugangslink sind hier zu finden.
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