Beamte der Bereitschaftspolizei stoßen mit Demonstranten zusammen, nachdem der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde.
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Beamte der Bereitschaftspolizei stoßen mit Demonstranten zusammen, nachdem der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde.

Kommentar

Die Demokratie in der Türkei ist längst autokratischen Strukturen gewichen

Man stelle sich vor, dass Olaf Scholz wenige Wochen vor der Bundestagswahl Friedrich Merz inhaftieren hätte wollen, mit Hilfe willfähriger Richter und mit dem Ziel, die Bundestagswahl doch noch zu gewinnen. Komischer Gedanke, oder? Genauer gesagt: eine unmögliche Geschichte. Warum? Weil die Demokratie in Deutschland funktioniert.

Genau hier liegt der Unterschied zum Geschehen in der Türkei. Dort ist am Beispiel des höchst nervösen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu beobachten, wie ein von der Demokratie in die Autokratie abgerutschtes Land um faire Wahlen gebracht wird. Der populäre Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu gilt seit längerem als einzig ernsthafter Herausforderer des Dauerpräsidenten.

Seine CHP-Partei, die Sozialdemokraten der Türkei, durften sich bis vor kurzem beste Chancen ausrechnen, mit ihrem Kandidaten bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen die Ära Erdoğan zu beenden. Dazu wird es nun nicht mehr kommen - denn der einzig ernsthafte Konkurrent des Machthabers sitzt hinter Gittern. Dass ihm eine willfährige Justiz auch noch seinen Universitätsabschluss aberkannt hat, passt ins Bild. Somit fehlen Imamoğlu auch die formalen Voraussetzungen für die Präsidentschaftswahl. Sicher ist sicher, mögen sich die Erdoğan-Zuarbeiter gedacht haben.

Das Geschehen in der Türkei ist unglaublich. Mit einem Rechtsstaat, wie wir ihn kennen, hat all das nichts zu tun, mit einer funktionierenden Gewaltenteilung ebenso wenig. Vielmehr erleben wir ein Schmierenstück aus dem Lehrbuch der Autokraten. Die Chuzpe, mit der Erdoğan vorgeht, erstaunt. Offenbar hat der 71-Jährige, ehemals als Reformer in seiner konservativen AKP-Partei gefeiert, jegliches Maß verloren.

Wer so regiert, dürfte von Angst geleitet sein. Und tatsächlich hätte dieses Mal die Abwahl gedroht. Denn Imamoğlu hat aus dem machtvollen Amt des Istanbuler Stadtoberhauptes heraus längst eine Strahlkraft entwickelt, die weite Teile der Türkei erfasst. Ähnlich, wie dies Erdoğan zuvor gelungen war, der AKP-Chef war zwischen 1994 und 1998 ebenfalls OB der Metropole am Bosporus gewesen.

Die Frage ist nun, wie schnell es der Staatsmacht gelingt, die Massenproteste in der Türkei zu ersticken. Noch besteht Hoffnung für den Fortbestand einer demokratischen Republik, denn das Vorgehen gegen Imamoğlu empört nicht nur dessen Parteifreunde. Die zig Millionen Unterschriften für die Nominierung des inhaftierten Mannes sprechen ebenso Bände wie die täglichen Demonstrationen.

Allzu viel Hoffnung sollte jedoch nicht bestehen. Erdoğan verfügt über die Staatsmacht, sei es militärisch oder rechtlich. Und er dürfte auch keinerlei Skrupel verspüren, von dieser Macht Gebrauch zu machen. Das Vorgehen in der Türkei fügt sich in die derzeitige Erfolgsgeschichte der Autokraten. Der Rückbau demokratischer Systeme schreitet voran.

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