Zuerst NS-Zeit, dann die US Army

Der Omnibusbahnhof in Nürnberg: Die zugige Häuserschlucht war einst ein prachtvolles Stadtpalais

10.7.2024, 15:00 Uhr
Der Zentrale Omnibusbahnhof in Nürnberg heute (links) und 1913 - damals stand an der Adresse Bahnhofstraße 11 a dieses Stadtpalais.

© Collage NN/Gulden Der Zentrale Omnibusbahnhof in Nürnberg heute (links) und 1913 - damals stand an der Adresse Bahnhofstraße 11 a dieses Stadtpalais.

Eine der unwirtlichsten Ecken Nürnbergs strahlte einst kosmopolitisches Flair und Bewohnerstolz aus. Doch dann kamen die Stadtplanung der NS-Zeit und der Wiederaufbaujahre und ein umstrittenes Großprojekt.

Eigentlich wollten wir gar nicht über den "ZOB" schreiben. Denn wir finden Nürnbergs Zentralen Omnibusbahnhof langweilig, nicht erwähnenswert. Er ist ein ausgewiesener Unort, eine zugige Häuserschlucht, in deren Schatten der Mensch nur ungern verweilt. Dass ihn viele Busfahrer als "Spucknapf" bezeichnen, wundert nicht.

Es ist kaum glauben, was diese Postkarte zeigt

Aber, wie gesagt, "eigentlich". Denn jüngst kam uns eine 1913 abgestempelte Fotokarte in die Hände. Sie zeigt ein prunkvolles dreigeschossiges Eckhaus, dessen Fassaden geradezu überladen sind mit Zierwerk und einem Mansarddach mit Giebel- und Turmgauben im Stil der französischen Neorenaissance. Zwei muskulöse Atlanten rahmen das Eingangsportal und tragen schwer an dem Kastenerker, der die Mauerschräge an der Eimündung der Käte-Strobel- in die Bahnhofstraße ziert.

Man mag kaum glauben, dass dort, wo sich heute unser ZOB erstreckt, einst dieses Stadtpalais stand. Die Aufnahme wurde um 1913 geschossen.

Man mag kaum glauben, dass dort, wo sich heute unser ZOB erstreckt, einst dieses Stadtpalais stand. Die Aufnahme wurde um 1913 geschossen. © Sebastian Gulden

Sie ahnen es: Just dieser Prachtbau, ein Werk des Architekten Emil Hecht, stand einst dort, wo sich heute der Ostflügel des Adcom-Centers (jetzt "psd Bank Business Center", Bahnhofstraße 11a) erhebt. Erbauen ließ es der Hopfenhändler Isidor Reinemann. 1857 in Fürth gegründet, war das Unternehmen mit Vollendung des Eckhauses 1886 nach Nürnberg in die Heideloffstraße 20 übersiedelt, besaß Filialen in der böhmischen Hopfenhochburg Saaz (Žatec) und sogar in New York City.

Söhne des Hopfenhändlers teilten sich das Haus

Reinemanns Söhne Heinrich und Hugo teilten sich damals nicht nur das Unternehmen, sondern auch ihr Haus. Zusammen mit ihren Gattinnen Ella und Frieda und ihren Kindern bewohnten sie die gigantisch großen Etagenwohnungen im ersten und zweiten Stock. Im Hochparterre lebten die Eheleute Lina und Philipp Vandewart, gebürtig aus Bad Neustadt an der Saale und Großkaufmann für Futtermittel, mit ihrem erwachsenen Sohn Karl, Prokurist und Mitglied des jüdischen Schachclubs "Tarrasch". Das Appartement unter dem Dach schließlich bewohnten Anna und Albert Schachne, seines Zeichens Spielzeugfabrikant und Erfinder der ersten Puppe, die bei Druck auf den Bauch pieseln konnte.

Nicht der Bombenkrieg, sondern die städtebaulichen Ambitionen der Stadt waren es, die das Haus dem Untergang weihten: Nachdem die Bayerische Gemeindebank es 1936 angekauft hatte – ob ein Fall von "Arisierung" vorliegt, ist noch zu klären –, sollte es ein Neubau nach Planung des Büros Lehr & Leubert ersetzen, den man als würdigere architektonische Rahmung für die Aufmärsche während der Reichsparteitage ansah.

Die einstigen Bewohnerinnen und Bewohnern, die allesamt dem jüdischen Großbürgertum angehörten, waren zu diesem Zeitpunkt entweder bereits verstorben oder trafen Vorbereitungen, sich ins sichere Ausland abzusetzen. Fast allen gelang die Flucht – mit Ausnahme von Karl Vandewart: Die Nazis ermordeten ihn nach seiner Deportation 1941 im Lager Riga-Jungfernhof.

Nürnbergs Entscheidung war eine Vollkatastrophe

Was das Haus anbelangte, war die Talfahrt mit dem Abbruch 1938 längst nicht vorbei. Der Kriegsausbruch beerdigte die Neubaupläne. 1961 dann erkor die Stadt die Brache zum Standort für den Zentralen Omnibusbahnhof aus. Was aufgrund der Nähe zu Altstadt und Hauptbahnhof plausibel klingt, erwies sich städtebaulich als Vollkatastrophe, die den vormals wohlgeordneten und gestalteten Stadtraum nachhaltig ruinierte. Gleich daneben Richtung Bundesbank setzte sich die Brache in Form des "American Parking Lot", eines bewachten Parkplatzes, der Angehörigen der US Army vorbehalten war, fort.

Das Schönste an dieser Aufnahme des ZOB und des so genannten "Amerikanischen Parkplatzes" von 1963 sind die alten Fahrzeugmodelle.

Das Schönste an dieser Aufnahme des ZOB und des so genannten "Amerikanischen Parkplatzes" von 1963 sind die alten Fahrzeugmodelle. © Gertrud Gerardi (NN/NZ)

Insofern stellt der 2002 vollendete mehrflügelige Neubaukomplex eine deutliche Verbesserung dar. Und der hat durchaus Qualitäten, wirkt in den Obergeschossen licht, die Konstruktion filigran, wenn auch etwas übermächtig über den hohen, dürren Stelzen. Ein adäquater Ersatz für das Verlorene ist er aber nicht.

Durch den Bau des ADCOM-Centers ist zwar die hässliche Lücke geschlossen, der überdimensionierte Baukörper ist aber kein Ersatz für die Bebauung der Vorkriegszeit.

Durch den Bau des ADCOM-Centers ist zwar die hässliche Lücke geschlossen, der überdimensionierte Baukörper ist aber kein Ersatz für die Bebauung der Vorkriegszeit. © Sebastian Gulden

Diese Serie lädt zum Mitmachen ein. Haben Sie noch historische Fotografien oder Darstellungen eines Schauplatzes in Nürnberg? Dann schicken Sie uns diese bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: NN/NZ, Lokalredaktion, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail an redaktion-nuernberg@vnp.de; noch viel mehr Artikel des Projekts "Nürnberg – Stadtbild im Wandel" unter www.nuernberg-und-so.de/thema/stadtbild-im-wandel oder www.facebook.com/nuernberg.stadtbildimwandel

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