Beleidigungen im Netz
Cybercrime-Tag an der Uni Erlangen-Nürnberg: Digitale Gewalt wird ganz schnell real!
22.3.2024, 05:00 Uhr"Selten so ein dämliches Stück Hirn-Vakuum in der Politik gesehen wie Sawsan Chebli" - so hatte es ein Facebook-Nutzer über die SPD-Politikerin in die Tasten gehämmert. Die Politikerin Dorothee Bär sagt, sie werde immer wieder beleidigt, weil sie fränkischen Dialekt spricht - oder einfach, weil sie in der CSU ist. Auch Morddrohungen habe sie schon erhalten. Melanie Brinkmann, Professorin und Virologin, hat in der Corona-Pandemie erlebt, dass jemand ein Foto von ihr postete und zur Hexenverbrennung aufrief, ein anderer wollte eine Guillotine für sie und ihre Familie bauen. Grünen-Politikerin Renate Künast musste sich im Netz unter anderem als "Stück Scheiße" beschimpfen lassen.
Bayerns Strafverfolger haben 3115 neue Verfahren eingeleitet
Noch im Herbst 2019 befand das Landgericht Berlin, dass dies "keine Diffamierung der Person" sei, als Politikerin müsse sich Künast eben mehr bieten lassen, als der ganz normale Durchschnittsmensch. Später ruderte das Landgericht zurück und stellte fest, dass "Drecksau" und "Schlampe" wohl doch "ehrherabsetzend" seien.
Fünf Jahre später haben Hass und Hetze im Netz ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Im Jahr 2023 haben allein die bayerischen Behörden 3115 neue Verfahren eingeleitet, nach Angaben von Justizminister Georg Eisenreich (CSU) ist dies ein Plus von 28 Prozent gegenüber 2022. Der Großteil: Beleidigungen und Volksverhetzung. Im Bezirk der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg wurden 613 Verfahren gegen bekannte Täter verzeichnet, 85 gegen unbekannte Täter.
Sexistisch, fremdenfeindlich, antisemitisch
Digitale Gewalt ist das Jahresthema der Opferschutzorganisation Weisser Ring. Am heutigen 22. März soll auf den "Tag der Kriminalitätsopfer" aufmerksam gemacht werden. "Digitale Gewalt kann zu analoger Gewalt werden und umgekehrt, oft finden sogar beide Formen gleichzeitig statt", sagt die Nürnbergerin Shatha Yassin-Salomo. Die ehemalige Studiendirektorin engagiert sich seit ihrer Pensionierung als Außenstellenleiterin in Nürnberg und Fürth für den Weissen Ring.
Hilfe kommt von Staatsanwalt David Beck. Er ist Bayerns Hate-Speech-Beauftragter. Auch er kann Zitate und Bilder aus dem Netz zeigen, die derart ekelhaft sind, dass man sich fragt, wie er die eigene Seelenhygiene bewältigt. "Genieße das Leben in vollen Zügen" steht auf einem Foto, es zeigt die Deportation von Menschen im Zug nach Auschwitz. Ein weiteres Bild zeigt einen Galgen, "Asylantenentsorgungsgerät" hat einer darunter geschrieben.
Diffamierende Entgleisungen
Wie diesen diffamierenden, respektlosen Entgleisungen begegnen? Welche Konsequenzen braucht es? Dies diskutiert der "Erlanger Cybercrime Tag". Die Veranstaltung hat der Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg organisiert. Professor Christoph Safferling merkt in seinem Grußwort an, dass der Terror-Angriff der Hamas im Oktober 2023 und der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine der Hassrede im Netz weiteren Nährboden gegeben haben.
Als Hate-Speech-Beauftragter hat David Beck ständig mit sexistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Ausfällen zu tun, er ist einer der Referenten des "Erlanger Cybercrime Tages". Im Januar 2020 hatte Justizminister Eisenreich zugleich bei allen 22 bayerischen Staatsanwaltschaften Sonderdezernate gegen Hasskriminalität eingerichtet. Becks Aufgabe ist es, diese Sonderdezernate zu koordinieren.
Einsatz für Geflüchtete: Walter Lübcke wurde erst bedroht, dann erschossen
Der Hass aus der virtuellen Welt kann schnell in die reale Welt schwappen, sagt Beck. Man kann es auch so sagen: Wenn Populisten und Rechtsextreme im Netz dominieren und sich Demokraten nicht wehren, kapern organisierte Rechtsextreme im Internet die Meinungshoheit - und dies greift in die analoge Welt über. In ländlichen Regionen gibt es inzwischen Kommunen, die Probleme haben, Bürgermeister-Kandidaten zu finden. Angst ist nicht unberechtigt, dies hat im Jahr 2019 der Mord an Walter Lübcke gezeigt. Der Kasseler Regierungschef wurde lange im Netz für seinen Einsatz für Geflüchtete bedroht. Und irgendwann ist einer losgegangen und hat ihn erschossen.
Vor Ort ist auch Josephine Ballon, Rechtsanwältin und Geschäftsführerin der Berliner Organisation Hate Aid, die sich für Betroffene von Hassrede einsetzt - auch Renate Künast hatte hier Hilfe gefunden. Künast hat erst Anfang 2024 gegen den Facebook-Konzern Meta einen bemerkenswerten juristischen Erfolg errungen: Es ging um ein Falschzitat, das ihr in den Mund gelegt wurde. "Integration fängt damit an, dass sie als Deutscher mal Türkisch lernen" - seit Jahren kämpfte sie dagegen an, dass dieses Zitat immer wieder auf Facebook veröffentlicht und nicht gelöscht wurde.
Falschzitat - ein langer Kampf
Das Urteil, das am Oberlandesgericht Frankfurt am Main erstritten wurde, kann weitreichende Folgen haben. Denn die Richter fordern von Facebook/Meta nicht nur, einen einzelnen Beitrag zu löschen - die Plattform muss auch Kopien solch rechtswidriger Beiträge selbstständig finden und löschen.
Bisher glich der juristische Streit für Opfer von Hasskriminalität immer einem Kampf gegen Windmühlen, so erlebte es der Würzburger Rechtsanwalt Chan-jo Jun: Er hat im Jahr 2017 Anas Modamani vertreten, einen damals 19-jährigen Syrer. In der echten Welt hat er heute ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen und eine gelungene Integrationsgeschichte vorzuweisen. Damals wurde er auf Facebook als Terrorist und Gewalttäter verleumdet. Missbraucht wurde dazu ein Selfie, das er selbst geschossen hatte: Es zeigte ihn mit Angela Merkel. Entstanden war es, als die damalige Bundeskanzlerin eine Flüchtlingsunterkunft besucht hatte. Das Bild wurde systematisch für Verleumdungen missbraucht - beispielsweise postete die bayerische AfD das Bild nach den Anschlägen in Ansbach und Würzburg. Chan-jo Jun beantragte schon damals, dass all die Bilder auf der gesamten Plattform entfernt werden müssen, juristischen Erfolg gegen Facebook hatte er nicht.
All dies schockiert, doch vorschnell solle man dennoch nicht die Strafgesetze verschärfen, warnt Professor Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu , Richter am Saarländischen Oberlandesgericht und Lehrstuhlinhaber an der Universität des Saarlandes. Er wirkte lange an der Universität in Erlangen und gibt zu bedenken, dass das Strafrecht kein Allheilmittel gegen gesellschaftliche Missstände sei.
Und wenn man mit menschlicher Arbeitskraft nicht mehr hinterherkommt? Wenn das Meinungsklima in Deutschland kollabiert? Künstliche Intelligenz kann den Menschen Arbeit abnehmen, sagt Thomas Goger, stellvertretender Leiter der Zentralstelle Cybercrime Bayern. Er zeigt in seinem Vortrag, was die KI heute kann - abwägen gehört nicht dazu. Goger erinnert an den Chatbot des Paketdiensts DPD - der beschimpfte jüngst die Kunden wie ein Rohrspatz, die KI nannte ausgerechnet den DPA den schlechtesten Paketdienst der Welt.
Was darf man sagen, was nicht? Ist tatsächlich mit den Mitteln des Strafrechts zu regeln, wie eine Gesellschaft verfasst ist? Die Mittel des Strafrechts sollen ultima ratio sein, also das letzte Mittel, um etwa beleidigte, einzelne Personen zu schützen und deren Verletzungen zu sühnen. In einem liberalen Rechtsstaat setzt das Strafrecht dieses Signal, doch ein Allheilmittel ist das Strafrecht nicht.
Die Hassrede gefährdet demokratische Grundgedanken - schon weil Menschen aus Sorge vor heftigen Anfeindungen nicht wagen, zu widersprechen. Gleichzeitig gilt es den Spagat zu meistern, Äußerungen, die von der im Grundgesetz garantierten Meinungsfreiheit umfasst sind, von der Schmähkritik abzugrenzen.
Umgekehrt entsteht auch ein Schaden für die Diskussionskultur in der Demokratie, wenn Menschen vermuten, bestimmte Kritik nicht mehr üben zu "dürfen" und sich mit deutlichen Meinungsäußerungen im vorauseilendem Gehorsam zurückhalten. Die Grenzen abzustecken, was von der Meinungsfreiheit noch gedeckt ist, ist auch für Plattformbetreiber schwierig. Sie haben Löschpflichten - doch keiner will, dass erlaubte Meinungsäußerungen zensiert werden.
Für die Strafverfolgung und Kriminalprävention ist es aufwendig und häufig schwierig, mögliche Täter in der Anonymität des Internets zu identifizieren, der Einsatz von Künstlicher Intelligenz könnte hier in Zukunft helfen.
Die Tagung mit ihren Experten aus unterschiedlichen Bereichen beim Erlanger Cyber Crime Tag dient der fachübergreifenden Vertiefung.
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