Eine Spurensuche
Wo bitte ist Germantown? Mitten in Manhattan gibt es ein kleines, verschwundenes Deutschland
10.11.2024, 16:00 UhrDie Ottendorfer Bücherei ist ein solider Backsteinbau, auf dessen Fassade "Freie Bibliothek und Lesehalle" steht. In dem Bau von 1884 ist noch heute eine Bücherei - die sich aus deutscher Sicht dadurch auszeichnet, dass sie nicht in irgendeiner deutschen Kleinstadt steht, sondern mitten an der belebten 2nd Avenue in Manhattan.
Denn einst beherbergte die US-Ostküstenmetropole eine blühende deutsche Gemeinde, mit deutschem Essen, deutschem Brauchtum und deutscher Sprache - um 1850 lebte hier die drittgrößte deutschsprachige Stadtbevölkerung weltweit nach Berlin und Wien. "Little Germany" im heutigen East Village und in der Lower East Side in Manhattan boomte, so wie Chinatown und Little Italy. Doch eine Katastrophe vor 120 Jahren trug zu ihrem Untergang bei.
Es war an einem sonnigen Juni-Morgen im Jahr 1904. Etwa 1350 Menschen - hauptsächlich Frauen und Kinder deutscher Abstammung - wollten das Ende des Schuljahres feiern. Wie jeden Sommer hatte die lutherische St. Markus Kirche der deutsch-amerikanischen Gemeinde auf der Lower East Side einen Dampfer gechartert: das Ausflugsboot "General Slocum".
Doch was nach dem Ablegen folgte, war keine Feier, sondern bis heute eine der größten zivilen Schiffskatastrophen der USA: Nur rund eine halbe Stunde nach dem Start brach in einem Lagerraum des Schaufelraddampfers Feuer aus. Glut einer Zigarette oder aus der Kombüse hatten unsachgemäß gelagertes Stroh entzündet, ergab später eine Untersuchung.
Mehr als 1000 deutschstämmige Menschen starben
Löschversuche scheiterten, die Crew soll Kapitän Van Schaick gesagt haben: "Es ist, als ob wir die Hölle selber löschen müssten." Schließlich sank das 76 Meter lange und 21 Meter breite Schiff vor der Küste der Bronx bei einer Flussenge mit dem Namen "Hell’s Gate" (Höllentor). Hunderte Passagiere erstickten, verbrannten oder ertranken im heftigen Wellengang. Viele von ihnen konnten nicht schwimmen und wurden durch ihre damals aus modischen Gründen sehr schwere und lange Kleidung zusätzlich in die Tiefe gezogen.
Mehr als 1000 Menschen waren am Ende dieses so fröhlich gestarteten Tages tot. Obwohl die Tragödie heute so gut wie in Vergessenheit geraten ist, ist sie nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 noch immer die größte Katastrophe in der Geschichte New Yorks. Das "Kleindeutschland" in der Millionenmetropole New York sollte sich von der Tragödie nie mehr erholen.
Im heutigen East Village hatten mehr als 50.000 deutsche Einwanderer ein vibrierendes "Kleindeutschland" gegründet. Etwa eine halbe Million New Yorker sprach damals Deutsch. Mit Schiffen kamen Woche für Woche Neuankömmlinge dazu.
Rund um den Tompkins Park gab es auf mehr als 40 Straßenblocks Biergärten, Delikatessenläden, deutsche Schulen und Kirchen sowie Gesangs-, Sport- und Schützenvereine, von denen noch immer viele Spuren zu sehen sind. Nicht zuletzt wurden Deutsche zu Leistungsträgern: Der Einwanderer John Augustus Roebling wurde als Konstrukteur der weltbekannten Brooklyn Bridge berühmt.
Blasser Abglanz des Vorbilds
Nach der "General Slocum"-Katastrophe hatten Hunderte Männer ihre Familien verloren, die Kindergärten und Schulhöfe blieben leer, dutzende Witwer nahmen sich das Leben oder litten unter Depressionen. Andere gingen zurück nach Deutschland oder zogen weiter in den Norden Manhattans, nach Yorkville. Dort entstand ein zweites "Little Germany", das allerdings nur ein blasser Abglanz des Vorbilds war.
Doch nicht nur die Tragödie vor 120 Jahren ist nach Einschätzung von Diplomat David Gill Ursache für die Auflösung der deutschen Gemeinde. "Es gab ja schon Ende des 19. Jahrhunderts und auch im 20. Jahrhundert durchaus die Erwartung, dass sich nicht nur Deutsche, sondern auch andere Staatsbürger mehr assimilieren und mehr zu Amerika stehen als zu ihren nationalen Wurzeln", erklärt Gill, der von 2017 bis 2024 deutscher Generalkonsul in New York war.
Bei den Deutsch-Amerikanern beschleunigte noch ein weiterer Faktor die Entwicklung: "Sicherlich haben die zwei Weltkriege im letzten Jahrhundert dazu geführt, dass Amerikaner mit deutscher Abstammung sich von diesen Traditionen auch gelöst haben", so Gill weiter. Dazu kam auch noch, dass der soziale Aufstieg zahlreicher deutscher Einwanderer viele von ihrer Community entkoppelte.
Um das deutsche Erbe in New York zu würdigen, hat das deutsche Generalkonsulat vor Kurzem eine eigene Karte zum Thema "Germany in NYC" veröffentlicht. Darin können Interessierte die Spuren deutscher Geschichte in Manhattan in etwa zwei Stunden zu Fuß erkunden. 30 Orte deutscher Identität in New York sind dort beschrieben, die Gebäude und Denkmäler sind aufwendig illustriert. Nummer 14 auf der Liste: die Ottendorfer Bücherei.
Mehr Infos zum Erbe der Deutschen:
Auf dieser Seite finden Sie eine ausführliche Beschreibung des deutschen Erbes in New York mit noch mehr Fotos: www.newyorkcity.de/little-germany-in-new-york
Die Seite des deutschen Generalkonsulats in New York mit Infos zur Karte der Orte deutschen Erbes finden Sie hier: www.germany.info/us-en/embassy-consulates/newyork/-/2664140
Keine Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen