Keine Chancengleichheit beim Autounfall
Weiblicher Crashtest-Dummy Eva: Endlich mehr Sicherheit für Frauen?
20.11.2022, 16:03 UhrFast überall wird inzwischen heftig gegendert. Nur im Bereich der automobilen Verkehrssicherheit und somit da, wo es um Leben und Tod geht, kann von Chancengleichheit noch keine Rede sein. Denn bei Crashtests fährt überwiegend ein Mann an die Wand. Schon der erste aller Dummys – Sierra Sam, „geboren“ 1949 in den USA – war ein (noch recht grobschlächtiger) Kerl. Heute ist der sogenannte 50-Prozent-Perzentil-Mann Standard, ein Durchschnitts-Typ von 1,75 Metern Körpergröße und 78 Kilogramm Gewicht. Verkörpert wird er von „Thor“, der bei Zulassungsprüfungen und beim Euro-NCAP-Crashtest seinen Job erledigt. Und auch der neuartige und besonders lebensecht nachgebildete „Biofidel“ ist von maskulinem Körperbau.
Weibliche Dummys hingegen dürfen bislang nicht ans Steuer. Trivial ist das keineswegs. Denn bei den Aufprallversuchen werden wichtige Erkenntnisse gewonnen, die in den Bau von Automobilen einfließen – beispielsweise, was die Anordnung von Sitzen, Gurten, Kopfstützen und Airbags betrifft. Die Abwesenheit der Damen-Dummys hat zur Folge, dass das spezifische Verletzungsrisiko von Frauen kaum abgebildet wird. Dabei spielen nicht nur Unterschiede bei Größe und Gewicht eine wichtige Rolle. Beispielsweise ist die weibliche Halswirbelsäule weniger stabil als die männliche und die Muskulatur des vergleichsweise schmalen Nackens nicht so stark ausgeprägt. Frauen erleiden somit häufiger ein Schleudertrauma.
Lebensbedrohliche Brustverletzungen
Und das ist noch lange nicht alles. Laut der US-Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA tragen weibliche Autofahrerinnen außerdem einem ausgeprägteres Risiko für Bein-, Arm- und Brustverletzungen als Männer. Das bestätigen auch Erkenntnisse des ADAC. So hat der Club festgestellt, dass die Gefahr schwerwiegender bis lebensbedrohlicher Brustverletzungen bei Frauen 30 Prozent höher liegt als bei Männern, das gleiche gilt übrigens für Jugendliche und Senioren.
Um die Pedale zu erreichen, müssen Frauen den Fahrersitz oft verhältnismäßig weit nach vorne zu schieben. Somit sitzen sie ziemlich nah am Armaturenträger, und aufgrund ihrer zumeist geringen Körpergröße außerdem vergleichsweise hoch. Das ist auch deshalb problematisch, weil der Airbag bei einem Unfall womöglich nicht zielgenau „zuschlagen“ kann. In Crashtests hat die Unfallforschung der deutschen Versicherer (UDV) nachgewiesen, dass frauengerecht angeordnete Pedale die Belastungswerte für die Extremitäten von Frauen und kleineren Menschen um rund das Fünffache senken würden.
Mehr als nur ein kleiner, leichter Mann
Um hier zu validen Erkenntnissen zu gelangen, fordern Sicherheitsexperten seit langem den verstärkten Einsatz von Frauen-Dummys – nicht nur bei virtuellen, sondern auch bei physischen Crashtests. Zwar gibt es bereits die sogenannte „Hybrid-5%-Frau“, die aber letztlich nichts anders ist als ein kleiner, leichter Mann.
Doch jetzt kommt Eva. Sie ist der erste echte weibliche Dummy, entwickelt von einem schwedischen Ingenieursteam um Astrid Linder, Entwicklungsdirektorin beim schwedischen Straßen- und Verkehrsforschungs-Institut VTI. Auch Volvo hat das Projekt unterstützt. Eva bringt es auf eine Körpergröße von 1,62 Metern und ein Gewicht von 62 Kilogramm. Nicht nur das unterscheidet sie von den Herren Thor oder Biofidel: Eva besitzt einen anderen Muskelaufbau, andere Körperformen und somit auch einen anderen Schwerpunkt, denn Hüften und Becken orientieren sich ganz an der weiblichen Anatomie.
Die mit jeder Menge Sensoren, einem eigenen Akku und Speichermedien vollgestopften Dummys sind teuer – sehr teuer. „Thor“ beispielsweise kostet laut ADAC eine knappe Million Euro, hinzu kommt das regelmäßige Kalibrieren für jeweils 20.000 Euro.
Eva dürfte da nicht billiger sein. Bei den offiziellen und für die Zulassungsverfahren relevanten Crashtests wird sie in absehbarer Zeit kaum tätig werden. Noch immer sind weibliche Dummys hier keine Pflicht. Astrid Linder hofft und fordert, dass sich das bald ändert. Immerhin: Die Vereinten Nationen überprüfen derzeit, ob die Vorschriften für Crashtests angepasst werden sollen.
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