Der Zukunftswagen von A.M. Low
Vor hundert Jahren: So stellte man sich das Automobil des Jahres 2023 vor!
25.12.2023, 16:30 UhrDas Jahr neigt sich dem Ende zu, es ist die Zeit der Rückblicke. Unserer ist ein Fernblick, wir schauen aufs Jahr 1923. Den Kinderschuhen war das Automobil damals schon entwachsen, und doch trennte es Welten von dem, was wir heute als Fortbewegungsmittel nutzen. Schnauferl mit dünnen Reifen und Karosserien, die noch sehr an Kutschen erinnerten, tuckerten über die holprigen Straßen, das weltweit meistverkaufte Auto dieser Ära war das berühmte, bis 1927 gebaute Ford Model T, liebevoll „Tin Lizzy“ oder „Blechliesl“ genannt.
Um so revolutionärer erscheint jener Entwurf, den der englische Ingenieur Archibald Montgomery Low vor über hundert Jahren zu Papier gebracht hat. Vorgestellt wurde er seinerzeit auch von der Allgemeinen Automobil-Zeitung, die der Österreichische Automobil-Club herausgab. „Das Automobil des Jahres 2023“ lautete die Überschrift – ein visionärer Brückenschlag just in jene Zeit, in der wir heute leben.
Wiedergefunden im Porsche-Archiv
Danach geriet der "Zukunftswagen" in Vergessenheit. Doch kurz vor dem 75. Jubiläum der Marke Porsche, das 2023 anstand, fanden Mitarbeiter des Sportwagenherstellers die betreffende Ausgabe vom 1. Januar 1923 im Unternehmensarchiv wieder.
Vorvorgestrig oder gar lachhaft ist der Entwurf auch aus heutiger Sicht keineswegs. Ganz im Gegenteil: Low hat einen geradezu verblüffenden Weitblick bewiesen. Das fängt bei der strömungsgünstigen Karosserie an, die wie ein Mix aus ICE und Van anmutet, allerdings die steile Seite dem Fahrtwind zuwendet. Mit dem Antrieb setzt sich die Klarheit der Perspektive fort: Den Verbrennungsmotor stellte Low schon damals infrage, es sei nicht wahrscheinlich, dass er in hundert Jahren so noch existieren würde: „Er ist schmutzig, verlangt ununterbrochene Pflege, macht Lärm und häufig genug raucht und stinkt er“.
Elektrische Kraftquellen prognostiziert
Für zukunftsfähiger hielt der Brite effizientere Alternativen wie Gasantriebe und elektrische Kraftquellen, die womöglich über Stromleitungen im staubfreien, elastischen Straßenbelag gespeist würden. Und wirklich wird mit Induktionsstraßen oder E-Highways bereits experimentiert, beispielsweise sollen Elektroautos ab Mitte 2025 auf einem Autobahnteilstück in Nordbayern testhalber ihre Akkus während der Fahrt laden können.
Und auch damit behielt Low recht: „Es ist kaum anzunehmen, dass man die Hitze, die wir heute den Kühlmänteln und dem Auspuff überlassen, unverwertet lassen wird“. Tatsächlich nutzen heute Wärmepumpen die Abwärme des Motors zum Aufheizen des Innenraums. Ebensowenig, so Low, werde man „die Kraft, die durch das Bremsen absorbiert wird, vollkommen verloren gehen lassen“. Stimmt – gerade bei Elektroautos ist die Rückgewinnung von Bremsenergie, die in die Batterie zurückgespeist wird (Rekuperation), ein zentraler Punkt.
Wenig Hubraum, viele Zylinder
Sogar das aktuelle Thema „Downsizing“ sah Low am Zukunftshorizont aufscheinen: „Man wird es für absurd halten, einen Motor von mehr als 1000 Kubikzentimeter in ein Auto einzubauen“. Ganz so weit ist es zwar nicht gekommen, aber in der Tat geht der Effizienz-Trend seit Jahren in Richtung kleinerer Hubräume. Freilich auch hin zu weniger Zylindern, weswegen die Voraussage, wonach Motoren „sicher sechs oder mehr Zylinder haben werden“, nicht eingetroffen beziehungsweise schon wieder überholt ist.
Die Wartungsintensität des Motors, visionierte Low ferner sehnsuchtsvoll, werde sich drastisch reduzieren, allenfalls eine jährliche Durchsicht sei im Jahr 2023 noch nötig. Lachen werde der Automobilist, „wenn ihm ein Autohistoriker erzählen sollte, dass wir morgens vor der Ausfahrt früher aufstanden, um den Motor anzuwärmen und dass wir nach jeder armseligen Fahrleistung von 700 oder 800 Kilometern mit Ölkanne und Werkzeuge unseren Wagen umkreisten“. Ebenfalls „komisch“ werde es der Mensch der Zukunft finden, „dass wir stolz waren, wenn wir berichten konnten, dass unser Wagen seine 150 Kilometer ohne jeden Aufenthalt hinter sich gebracht hat“.
Briefe schreiben im Fond
Fest steht für den Ingenieur, dass die Ansprüche an die Leichtigkeit und den Komfort des Fahrens immens steigen werden: Der Automobilist werde sich „behaglich in seinen Luftpolstersitz“ zurücklehnen wollen – in der Tat sind belüftete Massagesitze heute gang und gäbe. Das leichtgängige Lenkrad, so sagte Low voraus, lasse sich dereinst mit einem Finger bewegen – eine Vorhersage, die, Stichwort Servolenkung, zumindest nahezu eingetroffen ist. Die pneumatische Federung wiederum werde so komfortabel sein, dass man im Fond einen Brief schreiben könne – was heute wohl eher als vertippfreies Verfassen von Kurznachrichten auf dem Smartphone umzuinterpretieren wäre.
Blick ins Interieur: Mit seiner Annahme, dass „der Zukunftswagen mehr Instrumente aufweisen wird als das heutige Tourenauto“, lag Low zwar durchaus richtig. Mit deren Anordnung auf einem flachen, tischgleichen Armaturenträger samt Lederfauteuil davor aber eher nicht, und auch von großflächigen Displaylandschaften ahnte der Brite nichts.
Navi und Telefon an Bord
Dafür sah er in geradezu erstaunlicher Manier das Navigationssystem und das Handy voraus: Magnetische Routenfinder und rollende Landkarten würden in Gebrauch sein („der Heimweg nach einer labyrinthischen Kreuz- und Querfahrt wird uns automatisch auf radiotelegraphischem Weg angezeigt“), und neben einem Taschendiktaphon werde ein drahtloses Telefon zur Ausstattung des Autos gehören.
Anderes aus Lows gedanklichem Zukunftsfundus hat uns der reale Fortschritt nicht beschert – die Waschgelegenheit an Bord beispielsweise, oder das rollende Trottoir, über das die Fahrzeuginsassen samt Wagen zu ihrer Wohnung gebracht werden.
Wer aber war dieser 1888 im Londoner Stadtteil Purley geborene A.M. Low? Letztlich ein universal talentiertes Technikgenie, dessen Erfindungsgeist sich nicht nur auf das Automobil gerichtet hat. 1914 entwickelte Low beispielsweise einen Vorläufer des Fernsehens namens „TeleVista“, zudem gilt der Brite als Vater der Funkleitsystem-Technologie, die er auf militärischem Gebiet einsetzte - in einem unbemannten Flugzeug als Urform der Drohne etwa oder in einer elektrisch gesteuerten Rakete. Zudem verfasste Low eine Vielzahl wissenschaftlicher Bücher.
Nicht wirklich ein Professor
Ein beliebter Zeitgenosse war der begabte Erfinder indes nicht. Zum einen, weil er sich unberechtigterweise mit dem Titel „Professor“ schmückte – und zum anderen, weil ihm offensichtlich sehr an Rampenlicht und Publicity gelegen war, dem einen oder anderen mag da ein mindestens kongenialer Erbe namens Elon Musk in den Sinn kommen. Archibald Montgomery Low starb am 13. September 1956 in London.
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