Anschnallpflicht im Auto
Seit 40 Jahren zahlen Gurtmuffel Bußgeld – zum Glück!
1.8.2024, 22:46 UhrUnter "Klickzahlen" verstand man vor 40 Jahren noch etwas anderes als Zugriffsraten auf damals praktisch nicht existente Internetseiten. Wenn überhaupt, könnte damit jene Häufigkeit gemeint gewesen sein, mit der – klick – der Sicherheitsgurt ins Gurtschloss einrastete. Und diese Quote sah gar nicht gut aus. Obwohl schon seit 1974 alle in der Bundesrepublik Deutschland neu zugelassenen Pkw (DDR 1978) mit Dreipunktgurten für die Vordersitze ausgestattet sein mussten und obwohl seit 1976 (DDR 1980) eine Anschnallpflicht bestand, wurde dieser viel zu wenig Folge geleistet. Nur rund 60 Prozent der Autofahrer und Autofahrerinnen legten den Sicherheitsgurt an, innerorts waren es sogar lediglich etwas über 40 Prozent, wie die Björn-Steiger-Stiftung rekapituliert.
Dabei hatte die 6. Gemeinsame Verkehrssicherheitskonferenz bereits im Mai 1961 klargestellt, dass der Gurt Kraftfahrer vor schweren oder gar tödlichen Verletzungen schützen kann. Doch Appelle an die Vernunft verhallten weitgehend ungehört. Auch Verkehrssicherheitskampagnen mit Slogans wie "Könner tragen Gurt" oder "Klick. Erst gurten - dann starten" halfen kaum, ebensowenig wie die Lehrfilme der ARD-Sendung "Der 7. Sinn", in denen Autos spektakulär zerschellten, die angegurteten Insassen aber eindrucksvoll unverletzt blieben.
Letztlich hatte die Zurückhaltung gegenüber dem Rückhaltesystem auch damit zu tun, dass Gurtmuffel – Anschnallpflicht hin oder her - nicht sanktioniert wurden. Und so beschloss man, das zu ändern: Am 1. August 1984 trat eine Neuregelung in Kraft, die von nicht angegurteten Frontpassagieren ein Verwarnungsgeld in Höhe von 40 Mark erhob.
Der Erfolg dieser Maßnahme war durchschlagend: Nahezu sofort stieg die Anschnallquote auf über 90 Prozent. Doch gleichzeitig herrschte Unmut im Land. "Fake News gab es damals schon", sagt Siegfried Brockmann, Geschäftsführer Verkehrssicherheit und Unfallforschung der Björn-Steiger-Stiftung, im Rückblick auf "die erheblichen, aus heutiger Sicht weitgehend irrationalen Widerstände". Damen fürchteten um ihren Busen, andere Autopassagiere sorgten sich um zerknitterte oder verschmutzte Hemden, wieder andere fühlten sich unwohl gefesselt und in ihrer Freiheit eingeschränkt. Und erhebliche Ängste bereiteten die Fragen, ob man – wenn angegurtet – überhaupt noch schnell genug aus einem brennenden oder ins Wasser gestürzten Fahrzeug fliehen könne oder ob ein in den Oberkörper schneidender Gurt nicht selbst Verletzungen hervorrufen würde.
Verbotener Zwang?
Auch juristische Bedenken wurden angemeldet: Könne es tatsächlich rechtens sein, wenn der Staat jemanden dazu zwinge, etwas zu seinem Eigenschutz zu tun? Viele der damaligen Diskussionen erinnern an die Jahrzehnte später geführten um die Corona-Impfpflicht, von einem "Bürgerkrieg" um den Gurt schrieb das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" gar.
Bei den ersten Gurten hatte es sich noch um einfache Beckengurte gehandelt, die aber nicht vor dem sogenannten Klappmessereffekt schützten – bei einem Aufprall drohte der nicht zurückgehaltene Oberkörper nach vorne auf den Armaturenträger oder das Lenkrad geworfen zu werden. Auch die Gefahr des "Submarinings" bestand, des Hindurchrutschens unter dem Gurt also, was ebenso bei einem bloßen Schultergurt passieren konnte.
Ein Schwede hat‘s erfunden
1958 aber ließ sich der schwedische Volvo-Ingenieur Nils Bohlin den Dreipunktgurt patentieren, der Becken- und Schultergurt miteinander kombinierte. Serienmäßig eingeführt wurde dieses Rückhaltesystem schon 1959 und zunächst in den Volvo-Modellen PV544 (von seinen Fans "Buckel-Volvo" genannt) und P120 Amazon. Das Patent war ein offenes, das Konzept konnte also auch von anderen Interessierten genutzt werden. Später gewann der Dreipunktgurt durch eine Aufroll-Automatik an Komfort, die gleichzeitig verhinderte, dass er zu lose angelegt wurde.
Im Jahr 1985 wählte das Deutsche Patentamt Bohlins Rückhaltesystem unter jene acht Erfindungen, die der Menschheit in den vergangenen 100 Jahren den größten Nutzen eingebracht haben. Dieser Wert und der Effekt des im August 1984 neu eingeführten Bußgelds für Gurtmuffel lässt sich auch aus der deutschen Unfallstatistik ablesen: Schon von Oktober 1984 bis Juli 1985 sank die Zahl der im Auto ums Leben gekommenen Menschen um fast 1500, gleichzeitig waren rund 15.000 weniger Schwerverletzte zu beklagen. Dies seien "dramatische und bis heute von keiner anderen Einzelmaßnahme erreichte Auswirkungen", sagt Siegfried Brockmann. Dass die Zahl der Verkehrstoten zwischen 1970 und 2023 von rund 21.300 (trauriger Höchststand) auf unter 3000 zurückgegangen ist, darf zu einem erheblichen Teil dem Gurt zugeschrieben werden.
Im August 1984 wurden auch die Rücksitze mit in die Anschnallpflicht einbezogen, eine Kindersicherungspflicht hingegen gibt es - kaum glaublich - erst seit 1993. Heute sind die anfänglichen Diskussionen um den Gurt vergessen, die Argumente widerlegt. Längst wird der Sicherheitsgurt als selbstverständlich akzeptiert. Und es ist der Verstand, der "bitte anschnallen" sagt. Das Verwarnungsgeld von aktuell 30 Euro spielt eher eine Nebenrolle – ebenso wie das enervierende Piepsen, mit dem moderne Autos darauf aufmerksam machen, dass es noch nicht auf allen Plätzen "klick" gemacht hat.
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