Jay Scheib, Regisseur der Neuproduktion des "Parsifal", aufgenommen bei einem Interview.
© Daniel Vogl/dpa
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Jay Scheib, Regisseur der Neuproduktion des "Parsifal", aufgenommen bei einem Interview.

Virtuelle Inszenierung

"Werden Mauern explodieren lassen": Regisseur Jay Scheib revolutioniert Bayreuther Festspiele

Es ist ein absolutes Novum auf dem Grünen Hügel von Bayreuth: Der neue "Parsifal" ist eine Augmented-Reality-Version der Gralsritter-Oper, bei der das Geschehen auf der Bühne dank entsprechender Brille durch virtuelle Elemente ergänzt wird. Im Interview erzählt Regisseur Jay Scheib, was er sich von dem Konzept verspricht - und warum er einen langen Atem braucht.

Sie stecken gerade mitten in den Proben. Wie gehen denn die Sänger mit Ihrem Konzept um? Ist es eine besondere Herausforderung?

Es ist ein Zusammenwirken. Für die Sänger ist es kein Problem. Sie arbeiten wie in jeder anderen Produktion auch und dann vergrößern wir das Ganze und ergänzen das, was sie selbst auf die Bühne mitbringen - eine verführerische Ideenmischung.

Wenn Sie sich Ihre Inszenierung nun anschauen - ist sie so geworden, wie Sie sich das gedacht hatten?

Ich sage das immer wieder: Ich komme zur Probe und weiß mehr oder weniger genau, wie es aussehen soll - und dann denke ich an einigen Stellen neu, weil alle noch weitere Ideen haben: die Sänger, der Dirigent. Ich habe immer geglaubt, dass es wichtig ist, das zu sehen, was da ist und nicht das, was man da sehen möchte. Darum versuche ich, als Regisseur sehr offen zu sein. Es ist im Ergebnis nun doch anders geworden, als ich es mir vorgestellt habe. Das betrifft vor allem, wie wir mit der Idee des Heiligen Grals umgehen. Leben wir in einer Gesellschaft, die den Heiligen Gral verdient? Da entstanden während des Probenprozesses eine Reihe interessanter Fragen.

Und die können Sie mit AR beantworten?

Die AR ist da, um uns einen Blick erhaschen zu lassen in eine Welt, in der es noch Visionen geben kann und wo noch Dinge existieren, auf die wir nicht mehr achten. Außerdem können wir den Raum erweitern, das Bühnendesign. Wir können im Theater sitzen und trotzdem nach draußen auf den Hügel schauen. Wir werden die Mauern explodieren lassen, wir werden sie verschwinden lassen und das szenische Design fast bis zur Unendlichkeit ausweiten. Dinge werden durch die Luft fliegen.

Sie haben in einem "Siegfried"-Projekt in Bayreuth schon den Drachen virtuell fliegen lassen. Wäre der "Ring" nicht eine bessere Oper für AR gewesen? Oder passt es auch zum "Parsifal"?

Im "Parsifal" geht es um Wunder. Das Unmögliche kann wahr werden und das tut es auch im "Parsifal". Parsifal lebt in zwei Welten zugleich: In einer sehr einfachen, menschlichen Welt, in der wir damit kämpfen, zu verstehen, was mit uns passiert und warum wir in Schwierigkeiten sind. Und dann existiert eine Art mystische Ebene, auf der wir uns fragen, ob die Prophezeiung sich erfüllen wird oder nicht. Wir warten auf den reinen Tor, weil dieser eben manchmal die richtigen Fragen stellt. Und dieser Gegensatz zwischen den Welten macht den "Parsifal" perfekt für AR. Mit den Brillen wird jeder aussehen wie aus dem "Terminator".

Jeder nicht, es gibt ja nur 330 Brillen für 2000 Zuschauer...

Wir haben das Ganze für 2000 Zuschauer entwickelt, ja, und wir werden das weiterentwickeln. Vielleicht finden wir ja einen Sponsor und können es ausbauen. Ich habe im Theater gearbeitet, in der Oper und mit Rock-Bands und habe viele verschiedene Dinge gemacht. Und die Wahrheit ist: Wenn man etwas machen will, das es vorher noch nie gab, dann muss man einen langen Atem haben, Rückschläge wegstecken und sich selbst treu bleiben - egal, welchen Lärm es drumherum gibt. Das Wichtigste für mich als Künstler ist, dem künstlerischen Prozess und dem Innovationsprozess treu zu bleiben.

2021 stellte Jay Scheib bei den Bayreuther Festspielen schon mal die Animation eines Drachen vor.

2021 stellte Jay Scheib bei den Bayreuther Festspielen schon mal die Animation eines Drachen vor. © Jay Scheib/Bayreuther Festspiele

Die Debatte um die Brillen schien eine fast politische Dimension bekommen zu haben auf dem Grünen Hügel - Katharina Wagner wollte sie unbedingt, andere, wie die Freunde von Bayreuth, waren sehr skeptisch...

Ich glaube, es war Heiner Müller, der gesagt hat: die erste Form des Neuen ist Terror. Aber das Schöne an der Oper ist: Um 16 Uhr am 25. Juli startet das Ganze und muss perfekt laufen. In diesem Haus, an diesem Ort, muss alles transparent, still und ohne Fehler ablaufen - alles Dinge, die nicht gehen, wenn man etwas zum ersten Mal macht. Insofern verstehe ich die Bedenken, auch die finanziellen, selbst mit nur 330 Brillen ist es ein riskantes Unternehmen, weil ja immer etwas schiefgehen kann. Aber ich denke, Katharina ist visionär, mutig und fantastisch. Mit ihr würde ich überall hingehen. Wenn man etwas Neues macht, muss man die Nerven bewahren. Es wird immer jemanden geben, der sagt, es sei technisch oder finanziell unmöglich. Aber das Risiko gehört nun mal zum Theater dazu. In jedem Bruchteil einer Minute können Unfälle passieren, ein Sänger kann einen falschen Schritt machen oder - Gott bewahre - der Gral könnte zerbrechen. Innovation hat nun mal ihren Preis, aber in Bayreuth hat Innovation Tradition.

Wie wird die Inszenierung denn für die 1700 Menschen ohne Brille aussehen?

Anders, ruhiger.

Manche Menschen wünschen sich genau das...

Nein. Einige Stimmen sagen vielleicht, dass die Leute sich genau das wünschen, aber das Publikum will Emotionen, will bewegt werden. Sie wollen ein Erlebnis, bei dem sie nicht das Gefühl haben, belehrt zu werden. Eine Erfahrung, die so offen ist, dass sie es erlaubt, die eigene Vorstellungskraft anzustrengen, den eigenen Intellekt, das eigene Herz - und die Musik zu fühlen. Und hier, in diesem Haus, fühlt man die Musik wie verrückt und das ist es, was ich will: davongetragen zu werden. Auch ohne die Brillen ist die Produktion eine vollwertige - mit komplettem Design, kompletten Kostümen.

Wie erleben Sie die Arbeit auf dem Grünen Hügel?

Die Bayreuther Festspiele sind die Olympischen Spiele der Oper. Ich habe gehört, dass man hier nur zweimal arbeitet: Man arbeitet einmal - und wenn man dann nochmal hier arbeitet, arbeitet man hier für immer. Das liebe ich, eine sehr charmante Beschreibung. Ich würde jedes Jahr wieder da sein. Wenn ich gebraucht werde, lasse ich alles in einer Sekunde stehen und liegen.


Jay Scheib (Jahrgang 1969) ist Professor für Musik und Theaterkunst am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er das Institut für Theaterkunst leitet. Das "American Theatre Magazine" zählte ihn zu den 25 Theaterkünstlern, die vermutlich die nächsten 25 Jahre des amerikanischen Theaters prägen werden. Er hat weltweit an Theatern und Festivals inszeniert und in Deutschland schon an der Berliner Volksbühne gearbeitet. 2018 wurde seine Londoner Inszenierung von Jim Steinmans Meat-Loaf-Musical "Bat Out of Hell" mit dem "Evening Standard"-Award als bestes Musical ausgezeichnet. Scheib war auch 2021 schon bei den Bayreuther Festspielen dabei. Er inszenierte dort Siegfrieds Drachenkampf - ebenfalls mit Hilfe von VR-Technik.

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