Das sollten Sie lesen
Von Martina Helfer bis Walter Moers: Unsere Buchtipps für November 2024
17 Bilder 20.11.2024, 10:00 UhrEine Frau, die nicht mehr weiß, wo sie wohnt, aber sehr wohl, wie man einen leckeren Eintopf zubereitet. Ein Mann, der sich mit Currywurst versucht, seine Hunde-Phobie zu besiegen. Eine Bäckerin, die mehr riecht als ihr lieb ist. Stevan Paul erzählt in seinen Kurzgeschichten von Menschen und vom Essen, am Ende jedes Geschichte findet sich ein Rezept zum Nachkochen. "Die Kichererbsen der Señora Dolores" ist, um im Bild zu bleiben, leichte Kost. Häppchenweise lassen sich die Geschichten lesen, nett und kurzweilig. (mairisch Verlag, 24 Euro) Marlene Weyerer © mairisch; shorty_ox/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Der Titel ist wörtlich gemeint: "Hier kommen wir nicht lebend raus" nennt sich der neue Band mit gleichwohl doch eher heiteren Erzählungen von Margaret Atwood, die mit Mitte 80 selbst in die Phase der Besinnung und Rückschau gekommen ist. Wie auch ihre Figuren, seien sie erfunden oder, siehe das alte Pärchen Tig und Nell, der eigenen Ehe nachempfunden. Hätten die für eine Kreuzfahrt gelernten Erste-Hilfe-Regeln im Ernstfall wirklich geholfen? Oder ist es besser, ganz selbstvergessen zu leben? Die Kanadierin packt philosophische Fragen in gewohnt amüsante Plots und holt, wie bei einer Séance, selbst den bewunderten George Orwell wieder aus dem Grab. Er hat uns ja noch immer was zu sagen... (Berlin Verlag, 26 Euro) Wolf Ebersberger © Berlin Verlag; Gianluca/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Manche Traumata sind auch nach Generationen noch nicht überwunden. Vor rund 150 Jahren wurde den Ureinwohnern der USA endgültig ihre Heimat, ihre Ehre, ihre Selbstbestimmtheit und in zahllosen Fällen ihr Leben genommen. Dass das Leid für die Indigenen und ihre Abkommen damit lange nicht vorbei war, zeigt Tommy Orange in "Verlorene Sterne". Der hochgehandelte Autor, Jahrgang 1982, ist Mitglied des Cheyenne- und des Arapaho-Stamms, 2019 war er mit "Dort, dort" für den Pulitzer-Preis nominiert. Anhand einer Familiengeschichte erzählt er von Gewalt, Unterdrückung, Umerziehung, Ausgrenzung und immer wieder: Sucht. Ein notwendiges Buch, nach dem man das "Land der Freiheit" mit anderen Augen sieht. (Hanser, 26 Euro) Thomas Correll © Hanser; Michal Jarmoluk/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Natürlich hatten wir den Deutschen Buchpreis bei Clemens Meyer gesehen und seiner Monumentalarbeit "Die Projektoren". Aber gut, Martina Hefter hat uns auch überzeugt mit ihrem so viel leichteren, saloppen Liebesroman "Hey guten Morgen, wie geht es dir". Ein nicht mehr ganz göttliches Paar in Leipzig, Juno und Jupiter, kämpft da mit dem Verschleiß, er Autor und Pflegefall, sie Performance-Künstlerin. Und weil diese Ehe anstrengt, flüchtet Juno sich nachts ins Internet, flirtet ironisch mit jungen Afrikanern, die alte weiße Frauen abzocken. Bis ein gewisser Benu ihr als Love-Scammer fast doch das Herz bricht... Das wird so locker wie poetisch berichtet, dass man jeden Moment dranbleibt, hautnah. (Klett-Cotta, 22 Euro) Wolf Ebersberger © Klett-Cotta; Ashi/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Komik und Klimadrama: Geht das zusammen? Ja. Frank Schulz macht es in "Amor gegen Goliath" lustvoll vor. Das Personal seines bislang wuchtigsten literarischen Wurfs (752 Seiten) besteht aus klimabewegten deutschen Ü50ern, die sich in einer kretischen Hippiebucht kurz nach Corona ihre Ideologien schönsaufen, wobei die Libido nicht zu kurz kommt. Aber auch depressive Kreative und kumpelhafte Totengräber durchkreuzen diesen sprachwitzigen, schlauen und tierlieben Käuze-Ulysses. Sogar Johnny erzählt mit, eine Hamburger Kohlmeise - bis sie auf S. 390 von Kater Ramses gefressen wird. Harry Rowohlt hätte seinen Spaß gehabt. Wir haben ihn. (Galiani, 32 Euro) Christian Mückl © Galiani; Pfüderi/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Das Mädchen spielt mit der Urne, steckt den Finger hinein und schleckt ihn ab. Jetzt hat es Urgroßvaters Asche verschluckt. Natalie Buchholz beginnt ihren Roman "Grand-papa" mit dieser schrägen kleinen Begebenheit. Und taucht dann ganz tief in ihre deutsch-französische Familiengeschichte ein. Im Mittelpunkt steht ihr Großvater Anatole, der als Lothringer für die Wehrmacht zwangsrekrutiert wurde. Detektivisch arbeitet sie auf, wie sich Anatoles traumatische Erfahrung auf die folgenden Generationen auswirkt. Dabei geht es um viel mehr als um diese eine Familie, es geht um ein wichtiges Kapitel Zeitgeschichte, das noch viel zu selten beleuchtet wurde. (Penguin, 24 Euro) Gabi Eisenack © Penguin; Eveline de Bruin/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Vampirgeier, Dummwölfe und Buchlinge. Wer etwa in "Die 13 ½ Leben des Käptn Blaubär" schon in die Welt Zamoniens abgedriftet ist, weiß Bescheid: "Das Einhörnchen, das rückwärts leben wollte" ist ein Werk des wohl fantasievollsten deutschen Autors Walter Moers. Es sprudelt über vor Ideen, seltsamen Wesen und abstrusen Wendungen. Mal will eine fleischfressende Pflanze Vegetarierin werden, mal ein Werwolf zum Wiewolf. Das neue Buch ist eine Sammlung von 20 Flabeln, also Fabeln, die witzig statt lehrreich sein sollen. Oft genug schaffen die Geschichten es auch, zum Schmunzeln oder Lachen anzuregen. Nicht jede ist gleich gut gelungen, aber das Buch ist eine wunderbar bunte Lektüre für graue Herbsttage. (Penguin Verlag, 28 Euro) Marlene Weyerer © Penguin; gregovish/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Ein Stuttgarter Frauenchor nach der Corona-Zeit, mit seiner Chorleiterin aus Estland und den sehr unterschiedlichen Sängerinnen aus drei Generationen, teils gut befreundet, teils sich mehr als kritisch gegenüberstehend: Dies ist der Ausgangspunkt für "Der Chor" von Anna Katharina Hahn. In einem gelungenen Bild der gegenwärtigen Gesellschaft zeigt die Autorin private Probleme wie Beziehungs- und Ehekrisen ebenso auf wie aktuelle politische Fragen (Asylanten, Einsamkeit im Alter, Pflegenotstand). Der unaufdringliche, mal heitere, mal ernste Ton, der respektvolle Blick auf die Figuren zeichnen diesen Roman genauso aus wie das Crescendo in der Handlung... (Suhrkamp, 25 Euro) Anja Weigmann © Suhrkamp; Ri Butov/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Wie kann man in Zeiten des Terrors noch einen Kriminalroman schreiben? Der israelische Erfolgsautor Dror Mishani will nach dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 keine erdachten Verbrechen zu Papier bringen, er zeichnet seine Gedanken und Erlebnisse in einem Tagebuch auf, beschreibt den Alltag in Tel Aviv, Gespräche, Beobachtungen. „Fenster ohne Aussicht“ heißt das Buch, das einen tiefen Einblick in die Lage im Nahen Osten gibt. Mishani bleibt ganz bei sich und seiner Wahrnehmung, was eine berührende Nähe schafft. Die Verzweiflung, die aus seinen Zeilen spricht, geht tief unter die Haut und hallt lange nach. (Diogenes, 26 Euro) Gabi Eisenack © Diogenes; Kranich17/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Der englischen Schriftstellerin Virginia Woolf war Cornwall ein Traumziel fürs ganze Leben, seit sie als Kind dort Ferien machen durfte - und natürlich die ideale Vorlage für Romane wie "Die Fahrt zum Leuchtturm". Barbara Hepworth wiederum fand als moderne Bildhauerin im Küstenort St. Ives als Wahlheimat viele Anregungen, ja Stoff für ihre organischen Skulpturen... Wie sehr die wildromantische Landschaft Künstlerinnen inspiriert hat (auch Daphne du Maurier und die Komponistin Ethel Smyth), das schildert Alexandra Lavizzari in ihrem handlichen Buch "Frauen in Cornwall" auf liebevoll porträtierende Weise. Den Tourismus dort will sie - zum Glück - nicht unterstützen... (Ebersbach & Simon, 20 Euro) Wolf Ebersberger © Ebersbach & Simon; Richard Norris/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Die 16-jährige Odile überlegt sich, welche Ausbildung sie nach der Schule machen könnte, sie darf ihr Tal aber auf keinen Fall verlassen. Denn das Nachbar-Tal auf der einen Seite gleicht ihrem Heimatort, allerdings ist man dort 20 Jahre in der Zukunft. Und auf der anderen Seite ist das identische Tal 20 Jahre in der Vergangenheit. Die Menschen dürfen nicht zwischen den Zeitzonen wandeln, nur als absolute Ausnahme, etwa im Trauerfall. Odile beobachtet zufällig ein Paar aus der Zukunft, das einen dieser Abstecher macht - so setzt sich eine Kette von unglaublichen Ereignissen in Gang. "Das andere Tal" von Scott Alexander Howard ist meisterhaft erzählt und spielt kunstvoll mit den Ebenen - ein Leseerlebnis! (Diogenes, 25 Euro) Sabine Ebinger © Diogenes; hartono subagio/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Der Frau, um die sich hier alles dreht, begegnete die Ich-Erzählerin in Ulrike Edschmids schmalem Roman "Die letzte Patientin" Anfang der 70er Jahre in einer WG. Rastlos und kühn ist diese Namenlose, die sich nach Nähe sehnt und sie doch nicht aushält, die ihre Amouren auf dem Trip durch Spanien, die USA und Südamerika nicht halten kann, später Psychologie studiert – und schließlich, schon todkrank, ihre letzte Patientin behandelt. Edschmid schreibt in kurzen Kapiteln, knapp, präzise, ohne Schnörkel. Dass sie ihrem Text dennoch eine große psychologische Tiefe mitzugeben vermag, ist die Kunst dabei. Ein nachwirkendes kleines Buch – und eine kluge Autorin, die es zu entdecken lohnt. Unbedingt. (Suhrkamp, 23 Euro) Birgit Nüchterlein © Suhrkamp; StockSnap/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Immer der Nase nach. Das kann man kriminalistisch wie olfaktorisch sehen, in Davide Longos neuem Piemont-Krimi "Am Samstag wird abgerechnet". Commissario Arcadipane wird gleich eingangs von einem Hund angepisst, was bei den Ermittlungen in einem Bergkaff zu Missverständnissen führt. Um eine tote Filmdiva geht's in diesem humorvollen, sprachlich feinen Thriller, der neben den Gerüchen auch die Farben, Stimmungen und Eigenheiten rund um Turin beschreibt. "Der Bahnhof Lingotto verhält sich zum Bahnhof Porta Nuova wie die ersten Erkundungen an den eigenen Geschlechtsteilen, er ist peripher, relativ sauber, wenig belebt, er nimmt etwas vorweg, was du begehrst..." Genau so. (Rowohlt, 26 Euro) Christian Mückl © Rowohlt; Julita/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Die Landschaft im "Hochschwarzwald" ist das eine, und Doris Feil kennt sie genau. Die Reise von Freiburg nach Todtnauberg und St. Blasien bis ins Horbacher Moor wird freilich doppelt bedeutsam, und sozusagen philosophisch bepackt, weil sie 1967 von zwei ganz besonderen, durchaus gegensätzlichen Geistern gemacht wurde: von dem dort lebenden Martin Heidegger eben und dem jüdischen Dichter Paul Celan, der den urdeutschen Denker, nationalsozialistisch angefleckt, besuchte. Topografie und literarische Erkundung treffen sich in diesem Büchlein über die historische Begegnung ebenso befruchtend, kann man sagen. (KJM Buchverlag, 22 Euro) Wolf Ebersberger © KJM; Couleur/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
50 ist der Elchtest für alle, die bisher sorglos ihre Geburtstage zelebriert haben. Jetzt wird es ernst für einen wie Jakob, der so ziemlich mit allem abgeschlossen hat, was ihn früher ausmachte. Karriere, Erfolg, Beziehungen. Die männlichen Wechseljahre schlagen zu, an eine Party ist nicht zu denken. Gäbe es da nicht Ellen, seine platonische Liebe, die ihn an seinem Geburtstag auf ein emotionales Roadmovie zu den Menschen seines Lebens schickt. Das geht nicht ohne Blessuren - und findet doch ein verträgliches Ende. "Das Fest" ist ein Kurztrip durchs Leben, wunderbar komisch, tragisch und atemlos auf gut 130 Seiten erzählt. Ein melancholischer Easyreader, pardon Easyrider! (Ullstein, 20 Euro) Karin von Matuschka. © Ullstein/Tomislav Jakupec/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Evan wollte eigentlich nur eine Woche in Ballybrady verbringen. Als Großstädter wirkt er allein in dem kleinen Dorf an der irischen Küste verloren. Doch verloren ist der Mann eigentlich überall. Als er aus unerwarteten Gründen plötzlich viel länger in dem Cottage verbringen muss, kommt er sich selbst, seinem Sohn und auch den teils schrulligen Dorfbewohnern wieder näher. "Mitternachtsschwimmer" von Roisin Maguire ist ein warmherziger Roman, der immer mal wieder in den Kitsch abdriftet. Die Autorin Roisin Maguire – wie ihre Figur Grace selbst Ganzjahresschwimmerin - schafft aber schön, die sanfte Seite ihrer schroffen Charaktere zu zeigen. (DuMont, 24 Euro) Marlene Weyerer © DuMont; Martin Hochreiter/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid
Südtirol kann so schön und beschaulich sein, doch im neuen Thriller "In Zeiten des Todes" von Luca D'Andrea ist davon wenig zu spüren: An einem kalten Januartag 1992 wird die Leiche einer Prostituierten gefunden. Ein Serienmörder geht in Bozen und Region um. Der junge Commissario Luther Krupp, der in seinem Team noch nicht so richtig dazu gehört, will den Fall lösen. Doch so leicht geht das nicht: Dank immer neuer Wendungen wird der Fall immer verworrener und wilder. Etwas Durchhaltevermögen fordert der solide Thriller mit seinen über 700 Seiten vom Leser ein. Oder, anders formuliert: ein passendes Buch für lange Herbstabende auf dem Sofa! (Tropen, 26 Euro) Sabine Ebinger © Tropen; Jan Brzeziński/pixabay/LizenzCC0; Montage: Sabine Schmid