Star-Regisseur im Interview
Festival-Erfolg in Cannes: Warum sich Wim Wenders für japanische Toiletten interessierte
29.5.2023, 18:55 UhrAuf einer der vielen Terrassen des Festivalpalasts in Cannes sitzt Wim Wenders – die grauen Haare dieser Tage nicht mehr lockig, sondern kurz, dafür mit Schnurrbart im Gesicht. Der deutsche Regisseur ist auf dem Festival quasi zuhause, seit er 1984 für "Paris, Texas" die Goldene Palme gewann. Sein neuer Spielfilm "Perfect Days" feierte bei den nun zu Ende gegangenen, 76. Filmfestspielen nicht nur offizielle Weltpremiere. Der japanischer Schauspieler Koji Yakusho hat für seine Hauptrolle im Film zudem den Preis als bester Schauspieler gewonnen. Der 67-Jährige spielt einen Mann, der in Tokio lebt und Toiletten reinigt. Auch seine 3D-Dokumentation "Anselm" über und mit Anselm Kiefer hatte Wenders in Cannes präsentiert.
Herr Wenders, Ihr Spielfilm "Perfect Days" handelt von einem Toilettenreiniger in Japan. Was inspirierte Sie zu dieser Geschichte?
Zunächst einmal hatte ich einfach Heimweh nach Tokio. Ich war fast zehn Jahre nicht mehr dort und habe durch die Pandemie zwei Reisen dorthin verpasst. Dann bekam ich die Einladung, mir dort die öffentlichen Toiletten anzuschauen, die berühmte Architekten wie Tadao Ando dort in den letzten Jahren gebaut haben. Das sind wirklich Träume von Toiletten, zum Teil in kleinen Parks gelegen. Wenn man darüber nachdenkt, wo man gerne mal auf ein stilles Örtchen gehen würde, um sein Geschäft zu verrichten, dann könnte man sich nichts Schöneres vorstellen als diese Häuslein. Aber ich hatte keine Lust, einen Dokumentarfilm über Klos zu machen, auch wenn sie von großen Architekten sind.
Aber einen Spielfilm über Klos fanden Sie spannend?
Ich mochte, wie in Japan – anders als bei uns – das Gemeinwohl und der Zusammenhalt größer geschrieben wurden denn je. Jeder dort war so froh, dass allen endlich wieder alles zugänglich war. Deswegen wollte ich einen Film darüber machen, was für ein schönes Gut das Allgemeinwohl ist. Und dafür waren diese Toiletten ja gemacht. Also haben wir dazu eine Figur entwickelt, und es kam mit Koji Yakusho ein Schauspieler ins Spiel, den ich verehre, seit ich ihn in "Shall We Dance?" das erste Mal gesehen habe. Als es hieß, er könnte diese Rolle vielleicht spielen, gab es kein Halten mehr und wir schrieben ihm diese schöne Geschichte quasi auf den Leib.
Heimweh nach Japan
Woher kommt überhaupt Ihre Faszination für Japan?
Das ist eine schon lange andauernde Geschichte, die in den Siebziger Jahren damit begann, dass ich zum ersten Mal einen Film des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu sah. Ich kannte damals natürlich eigentlich die Filmgeschichte vorwärts und rückwärts, hatte schon tausende Filme gesehen und selbst etliche gedreht, aber als ich in New York zum ersten Mal Arbeiten von diesem Mann sah, wusste ich, dass ich endlich meinen großen Meister entdeckt habe. Ich habe dann alle seine Filme gesehen, bin nach Japan geflogen und habe dort auch Filme ohne Untertitel geguckt, alles, was das japanische Filminstitut hergab. So bin ich das erste Mal mit der japanischen Kultur in Verbindung gekommen und fand mich dort zuhause, in den Filmen und in diesem Land. Ich mochte, wie die Menschen dort miteinander umgehen. Seither bin ich immer wieder nach Japan gekommen und habe auch dreimal dort gedreht. Und kaum, dass ich hier mit Ihnen darüber spreche, habe ich schon wieder Heimweh.
Ihr Film stellt geradezu poetische Fragen. Werden Schatten dunkler, wenn sich zwei überlagern? Oder: warum kann nicht jeder Tag gleich sein? Sind das die Dinge, die Sie persönlich dieser Tage bewegen?
Ich habe zumindest versucht, einen utopischen Film in der gegenwärtigen Realität zu machen, wo uns solche Fragen zu entgleiten scheinen. Mir vorneweg! Ich bin ja arbeitswütig, habe immer einen zu vollen Kalender und greife ständig zum Handy. Ich muss mich deswegen regelmäßig daran erinnern, dass vieles gar nicht unbedingt nötig ist und man auch mal etwas auslassen kann. Dann merke ich mit großer Wehmut, was man alles verpasst in einer Gesellschaft, die einem einredet, dass man nichts verpassen darf. Allen voran die Aufmerksamkeit für das Heute, für das Hier und Jetzt, das, was man direkt vor sich hat. Das macht einem jetzt dieser Hirayama, den Koji Yakusho spielt, in meinem Film schön vor.
"Perfect Days" kommt mit geradezu zarter Bescheidenheit daher. Hatten Sie keine Angst, dass er womöglich zu klein ist für die große Aufmerksamkeit, die mit dem Wettbewerb von Cannes einhergeht?
Dieser Wettbewerb findet ja statt in einer Zeit, in der alles drunter und drüber geht, in der Welt wie im Filmbusiness. Da findet ein großer Kultur-Umbruch mit Blick darauf, wie wir mit Bildern umgehen und was uns Bilder bedeuten. Da finde ich es sehr schön, etwas zeigen zu können, das in gewisser Weise fast altmodisch ist. Ich glaube, dass mein Film in Cannes einen Platz hat, gerade auch weil er eine Art Gegenbild zu vielem ist und eine Art von Kino hochhält, das aktuell ziemlich in Gefahr ist.
Parallel haben Sie in Cannes allerdings auch noch Ihren neuen Dokumentarfilm "Anselm" gezeigt. Zwei große neue Filme im gleichen Festival – ist das nicht enormer Stress?
Klar, das war eine große Anstrengung. Nicht zuletzt natürlich, weil beide Filme 14 Tage vorher noch gar nicht ganz fertig waren. Ich war noch mit der Lichtbestimmung des einen beschäftigt, als das Festival anfing, und habe beim anderen kurz vorher in der Postproduktion die letzten Effekte eingesetzt. Das war schon stressig.
Bei "Paris, Texas", der 1984 die Goldene Palme gewann, soll es damals noch knapper gewesen sein...
Ja, da kam ich erst am Morgen der Vorführung mit der ersten Kopie des Films mit dem Zug in Cannes an. Als diesmal Festivalleiter Thierry Frémaux anrief, um zu sagen, dass er nicht nur "Anselm", der schon länger feststand, sondern auch "Perfect Days" zeigen will, habe ich ihn allerdings inständig gebeten, die beiden nicht am gleichen Tag, sondern möglich weit getrennt voneinander zu programmieren. Denn sonst wäre der Stress vermutlich nicht zu ertragen gewesen.
Wim Wenders (77) ist als deutscher Regisseur und Fotograf längst ein Star. Mit weiteren Autorenfilmern des Neuen Deutschen Films gründete er 1971 den Filmverlag der Autoren. Mit Produktionen wie "Paris, Texas" und "Der Himmel über Berlin" wurde er in den 1980er Jahren weltweit bekannt. Auch eine Dokumentationen "Pina" und "Das Salz der Erde" sorgten für Aufsehen. Wenders sieht sich selbst als Reisender, dann erst als Regisseur oder Fotograf.