Politisches Erzählkino
"Doch das Böse gibt es nicht": Zum Töten gezwungen
19.8.2021, 12:47 UhrDie Ampel hat längst auf grün geschaltet, aber Heshmat (Ehsan Mirhosseini) fährt nicht los. Sein Auto steht einsam auf der nächtlichen Straße, während der Fahrer stur geradeaus starrt. In den 30 Filmminuten davor hat das Publikum Heshmat als fürsorglichen Familienvater kennengelernt, der morgens früh von der Nachtschicht nach Hause fährt, am Mittag die Frau von der Arbeit abholt, liebevoll mit dem leicht verzogenen Töchterchen und der gebrechlichen Großmutter umgeht.
Mit seiner Familie führt er ein ausgefülltes Leben ohne finanzielle Sorgen. Einmal im Monat bekommt Heshmat sogar einen Sack Reis als Sonderration. Erst am Ende der ersten Episode von Mohammad Rasoulofs "Doch das Böse gibt es nicht" versteht man, wofür die Naturalienprämie ausgegeben wird. Da ist Heshmat mit der zweiten Grünphase weiter gefahren, kocht sich in seinem Büro einen Tee, während fünf Leuchten neben dem Sichtfenster in der Wand rot blinken. Dann wechselt auch hier das Licht auf grün und nach einem Kontrollblick drückt Heshmat den Knopf.
Das nächste Bild ist ein Schock. Mit dem Knopfdruck fällt die Klappe nach unten und die Beine von fünf Gehängten zappeln in der Luft. Mit "Doch das Böse gibt es nicht", der bei der Berlinale 2020 den Goldenen Bären gewann, legt der iranische Regisseur ein entschiedenes Plädoyer gegen die Todesstrafe vor, der in den letzten sechs Jahren in seinem Heimatland weit über 2000 Menschen zum Opfer fielen.
Als Regimekritiker zum Tode verurteilt
In vier einzelnen Geschichten widmet sich Rasoulof denjenigen, die die Hinrichtungen der Gefangenen vollstrecken, die in vielen anderen Gefängnissen nicht automatisiert sind. Hier müssen junge Wehrdienstleistende den Hocker unter den Füßen der Verurteilten wegziehen. Ein neuer Rekrut kann das mit seinem Gewissen nicht vereinbaren und bricht mit Waffengewalt aus dem Todestrakt aus.
Ein anderer lässt sich darauf ein. Schließlich gibt es nach jeder Hinrichtung drei Tage Urlaub und er möchte seiner Freundin zum Geburtstag einen Heiratsantrag machen. Aber in ihrem Dorf in den Bergen trauert man um den Lehrer, der als Regimekritiker zum Tode verurteilt wurde. Und schließlich kehrt die Erzählung zu dem geflüchteten Rekruten zurück, der als älterer Mann seit Jahrzehnten in der Provinz untergetaucht ist, während die eigene Tochter beim Bruder in Deutschland aufwuchs.
Äußerst sensibel tastet Rasoulof das moralische Feld um die Todesstrafe ab. Eng verzahnt er das Private mit dem Politischen und zeigt, wie die Schuldverstrickungen das bürgerliche Familienleben, die romantische Liebe in ländlicher Idylle oder das Verhältnis zwischen Vater und Tochter nachhaltig vergiften.
Der Film verdeutlicht eindringlich, dass ein autoritäres Regime keine freien, moralischen Entscheidungen zulässt und welche Konsequenzen das für die Betroffenen hat. Rasoulof, der seit der Cannes-Premiere von "A Man of Integrity" (2017) Ausreiseverbot hat und zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt wurde, hat weitgehend unter dem Radar der Zensurbehörden gedreht. Umso mehr verblüffen die visuelle Brillanz und die schauspielerische Präsenz des herausragenden Ensembles – großes, politisches Erzählkino, wie man es nur noch selten sieht. (150 Min.)
In diesen Kinos läuft der Film.
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