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"Depressiver Alkoholiker": Der moderne Mann leidet öffentlich - und erntet dafür viel Aufmerksamkeit
28.5.2022, 08:55 UhrSchmerz ist schrecklich, Krankheit ebenso, Niederlagen und Rückschläge mag auch niemand erleben, sind aber unvermeidlich. Und wer noch nie Opfer eines übergriffigen Verhaltens wurde, kann sich glücklich schätzen. Umso besser, wenn man hinterher über all diese üblen Erfahrungen reden kann.
Selbstverständlich zählen dazu auch psychische Krisen jedweder Art, Burnout, Depression. Oder man hat einfach so keine Kraft mehr, vielleicht weil man die Schnauze voll hat vom Leistungsdruck oder weil man unter Long-Covid leidet.
Gerade die weißen Männer, ob noch jünger oder schon größtenteils älter, haben in dieser Sparte der öffentlichen Aufmerksamkeit seit einiger Zeit eine atemberaubende Aufholjagd begonnen. Die breitbeinige Heldenpose des unverwüstlichen Alphatiers wirkt nicht mehr glaubhaft, jetzt bringt großes Leiden große Quote. Eines der jüngeren Beispiele: Da spricht der depressive Komiker Kurt Krömer mit dem depressiven Kabarettisten Torsten Sträter in dessen Show über die tiefen Täler existenzbedrohender Antriebslosigkeit.
Öffentliches Weinen gehört für gefallene ehemalige Strahlemänner inzwischen zum Pflichtprogramm, etwa wenn Fußballmanager Max Eberl verkündet, dass er es im Haifischbecken des Profisports keine Sekunde länger aushält. Jan Gorkow, besser bekannt als „Monchi“ von der Band Feine Sahne Fischfilet, macht seine Essstörungen zum öffentlichen Thema - und wie er es geschafft hat, sein enormes Gewicht zu reduzieren.
Inzwischen sieht man sich nicht nur als Person des öffentlichen Lebens dem Verdacht ausgesetzt, etwas zu verheimlichen, wenn man noch keine Leidensgeschichte vorzuweisen hat. Das diese nicht nur Aufmerksamkeit sondern sehr langen Nachruhm sichert, sieht man an Jesus.
Erst nach der Kreuzigung und der Wiederauferstehung fuhr der Heilige Geist in seine Jünger und machte sie von diesem Moment unglaublich verkündungsfreudig und redselig - und das auch noch in mehreren Sprachen. Das war der Überlieferung nach an Pfingsten - aus heutiger Sicht könnte man sagen, da haben die ersten Christen Wlan bekommen - und machten fortan eifrig davon Gebrauch.
Menschen, denen es so dreckig geht, dass sie die Kurve nicht mehr kriegen, können hinterher allerdings nicht mehr davon erzählen. Die Geschichten, die wir kennen, sind die der Überlebenden. Eine nicht unerhebliche Verzerrung des kollektiven Gedächtnisses.
„Reden ist das, was wir gut können“, sagte Sträter in seiner Show zu Krömer. Zwei Schmerzensmänner von heute saßen da. Sie haben Glück, sie sind bekannt, damit sichert ihnen auch ihr öffentliches Leiden die Aufmerksamkeit, von der sie leben. Viele andere aber leiden still.
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