Hand auf's Herz: Ist Formel 1 überhaupt noch vertretbar?
9.4.2023, 17:45 UhrSeit 2021 schaue ich Formel 1 wirklich leidenschaftlich. Die leichteste Provokation reicht aus und bäm! Zwanzig Minuten Vortrag über die Vorteile von verschiedenen Reifenstrategien beim letzten Rennen. Sorry an dieser Stelle.
So sehr ich die Formel 1 inzwischen liebe, so sehr betrachte ich sie auch kritisch, aus verschiedenen Gründen.
Männer-Verein
Aktuell gibt es in der Formel 1 nur männliche Fahrer, und das ist auch schon fast immer so gewesen. Die Menge an weiblichen Fahrerinnen in der gesamten Geschichte der Formel 1, die an den Start eines Grand Prix gegangen sind, ist verschwindend gering. Die meisten von ihnen haben weder gewonnen noch überhaupt Punkte geholt – die bekommen nämlich nur die ersten zehn Fahrer:innen, die es über die Ziellinie schaffen.
Und das bei einem Sport, bei dem es bei den Fahrer:innen vor allem auf Reaktionszeit und Ausdauer ankommt! Das ist ja wohl genderneutral. Außerdem sind Frauen im Durchschnitt kleiner und leichter und hätten von daher eigentlich einen Vorteil in einer Sportart, bei der es auf jedes Gramm ankommt; je leichter Rennwagen und Fahrer:in, desto besser sind die Gewinnchancen.
Immerhin gibt es seit 2018 die Formel W, bei der es nur Fahrerinnen gibt. Außerdem gibt es ab diesem Jahr die F1 Academy, bei der gezielt Fahrerinnen gefördert und ihnen der Übertritt in die Formel 1 erleichtert werden soll. Ob das funktioniert, steht aber noch in den Sternen. Die W-Serie musste 2022 frühzeitig abgebrochen werden. Der Grund: fehlende Finanzierung. Im Vergleich mit den schwindelerregenden Umsätzen der Formel 1 ist das ernüchternd. Und wohl auch symptomatisch.
Tonnen an CO2
Pro Formel-1-Rennen legen zwanzig Autos bei bis zu 300 km/h mindestens 300 Kilometer Distanz in weniger als zwei Stunden zurück. Eine umweltfeindlichere Vorstellung ist aktuell schwer zu finden. Richtig? In der Tat sind die Rennen an sich nicht sehr umweltfreundlich; allerdings machen die Autos im Rennen weniger als ein Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes einer F1-Saison aus.
Eigentlich plant die Formel 1, bis 2030 klimaneutral zu werden. Die Stellschrauben bisher: keine Plastikflaschen im Fahrerlager und klimaneutrale Antriebsstoffe für die Rennwagen. Das ist zwar ein Anfang, umschifft aber das Hauptproblem: die Transport- und Reisewege zu den Rennstrecken. Das ist einer der Hauptverursacher des CO2-Ausstoßes der Formel 1. Ausgerichtet werden Rennen international, in Saudi-Arabien, Japan, Australien, USA, Europa. Und das in keiner sinnvollen Reihenfolge, bei der beim Transport und Logistik in irgendeiner Art CO2 gespart werden würde.
Teils soll sich das durch größere Effizienz des Transports durch neue Flugzeuge und dergleichen ändern. Allerdings verbessert das die Umweltbilanz nicht signifikant. Bis zu 120.000 Kilometer an Reisen bzw. Transport und damit CO2-Ausstoß kommen hier über die Saison zusammen. Allein Sebastian Vettel reist, wo es geht, mit Zug und Fahrrad an, aber das rettet auch nichts mehr.
Sowas in den Zeiten der Klimakatastrophe geht eigentlich gar nicht. Das stimmt zwar auch für andere Sportarten – ein Spieltag der Bundesliga verursacht etwa 7.800 Tonnen CO2, und von denen gibt ja nun mal auch salopp 34 im Jahr. Das nimmt die Formel 1 aber nicht aus der Verantwortung. Können wir uns als Weltgesellschaft einen CO2-Ausstoß von fast 260.000 Tonnen pro Formel-1-Saison leisten? Und selbst wenn wir es könnten - sollten wir das?
“Keine politischen, religiösen und persönlichen Statements”
In den letzten Jahren ist der Fußball mehr und mehr in die Kritik geraten, was die Ausrichtungsorte von EMs und WMs betrifft. Die Katar-Kontroverse hat viele Teile der Gesellschaft erreicht. Dieselbe Problematik hat auch die Formel 1. Viele Länder, in denen Rennen stattfinden und aus denen einige der Sponsoren stammen, präsentieren ein trauriges Bild der Lage verschiedenster Menschenrechte.
Beispiel Bahrain: die dortige Lage der Menschenrechte bezeichnet die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch als regelrecht “düster”. Dort fand Anfang März der Saison-Auftakt der Formel 1 statt. Auch in Katar gibt es dieses Jahr ein Rennen. Dasselbe Bild in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten: Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit, politische Haft, Todesstrafe. Nicht zu sprechen von den Einschränkungen der Rechte von Frauen und queeren Menschen. 2012 hatte die Zeitschrift “The Economist” Saudi-Arabien unter den 10 autoritärsten Staaten der Welt aufgeführt. Trotzdem machen internationale Sportverbände weiterhin Geschäfte mit diesen Ländern und richten dort Sportveranstaltungen aus - eben auch die Formel 1. Dabei macht sie sich mitschuldig.
Die bahrainische Menschenrechtsorganisation Bahrain Institute for Rights and Democracy (BIRD) wirft unter anderem Bahrain sogenannte “Sportwäsche” oder “sportswashing” vor; so heißt der Versuch, die problematische Lage eines Landes mithilfe von Sportveranstaltungen zu übertünchen.
Die offizielle Formel-1-Organisation gibt gerne vor, mit ihrer Präsenz in solch kontroversen Ländern zu einer besseren Situation dort beizutragen, und weist immer wieder Vorwürfe zurück, nur nach Profit zu entscheiden. Trotzdem liegt der Gedanke nahe; die Länder und Strecken zahlen schließlich dafür, ein Rennen ausrichten zu dürfen. Moral und Menschenrechte lohnen sich dagegen finanziell eher weniger.
Die Entwicklung geht weiter in diese Richtung: die Rennstrecke in Katar steht dieses Jahr zum ersten Mal auf dem Programm, aber die Formel-1-Organisation hat mit dem Land bereits jetzt einen Zehn-Jahres-Vertrag abgeschlossen. Trotz aller bekannter Menschenrechtsverletzungen.
Seit letzten Dezember dürfen die Fahrer während eines Rennens “keine politischen, religiösen und persönlichen Statements” abgeben. Das hatte die Fédération Internationale de l’Automobile (FIA), die Regelmacher und Dachverband der Formel 1, so festgelegt. Ursprünglich sollte diese Regel allgemein gelten, nach Kritik ruderte die FIA dann doch zurück. Jetzt darf es nicht während der offiziellen Zeit der Rennen oder auf der Strecke passieren.
Was tue ich jetzt?
Viele dieser Probleme und die eklatante Geldgier zeichnen nicht nur die Formel 1 aus. Ist also Boykott die einzige Möglichkeit, die uns offen steht? Das weiß ich selbst nicht so ganz. Aber falls ich aufhöre, Formel 1 zu verfolgen, dann wird es auf alle Fälle aus diesen Gründen sein.
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