Deeptalk-Dienstag im Duo: Cancel Culture

Jonas Werling

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Andrea Munkert

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15.2.2022, 17:05 Uhr
Deeptalk-Dienstag im Duo: Cancel Culture

© fein raus/Jonas Werling

Jonas: Hi, Andrea. Hast du das Gefühl, dass Cancel Culture funktioniert? Luke Mockridge geht dieses Jahr auf große Tour, trotz (oder vielleicht sogar wegen der Anschuldigungen ihm gegenüber). Auch Dieter Nuhr hat noch seine Show, Boateng spielt immer noch Profi-Fußball und Samra hat über 3,3 Millionen monatliche Hörer:innen auf Spotify.

Andrea: Servus, Jonas. Mmh, gute Frage. Cancel Culture bezeichnet ja laut Definition "den Versuch, ein vermeintliches Fehlverhalten, beleidigende oder diskriminierende Aussagen oder Handlungen öffentlich zu ächten". Und so zu protestieren, wenn ein Verhalten mit meinen ganz persönlichen Werten nicht zusammenpasst. Wenn ich Deine Beispiele so lese, denke ich: Cancel Culture ist vor allem auch viel zu sehr Verkaufsargument. Da wird doch drauf gesetzt, den Voyeurismus der Rezipienten ganz billig zu bedienen - und damit ordentlich Geld zu scheffeln. So nach dem Motto: Die gierige Masse guckt dem Geächteten dabei zu, wie er ihre Bedürfnisse durch Fehltritte bestätigt. Das Publikum will die Persona non grata doch stolpern sehen. Doppelmoralisch irgendwie, oder?

Deeptalk-Dienstag im Duo: Cancel Culture

© pixabay

Jonas: Da hast du sicher recht. Ich meine, was in dieser Welt ist nicht widersprüchlich? Die Verwertungslogik des Kapitalismus ist nicht moralisch. Einerseits wird gerne mit "greengewashten" Öko-Produkten , Gleichstellung und Antidiskriminierung geworben und auf der anderen Seite ist das alles doch nicht so wichtig, solange noch genug Profit daraus geschlagen werden kann. Und natürlich ist die Gesellschaft da sehr voyeuristisch und beobachtet Personen des öffentlichen Lebens mehr, als vielleicht auch sich selbst zu hinterfragen...

Aber eigentlich geht es doch um das Ziel von Cancel Culture.

Eigentlich geht es doch darum, darauf aufmerksam zu machen, wie Menschen in Machtpositionen ihre Macht ausnutzen, für Themen wie Beleidigung und Diskriminierung aller Art zu sensibilisieren und vor allem: Konsequenzen für die Täter (ich glaube hier kann ich mir das Gendern sparen) zu erwirken.

Andrea: Irgendwie ist die Cancel Culture ja der Pranger der Moderne. Im Mittelalter und der Vorzeit wurden Sünder und Sünderinnen auf öffentlichen Plätzen in ein Holzgestell gesteckt, damit die Bevölkerung sieht, wie schändlich dieser Mensch ist. Ich finde, eine Gesellschaft braucht so etwas wie Cancel Culture, auch wenn sie vielleicht manchen unmenschlich erscheint. Denn ohne diese Art moralischen Kompass sind, denke ich, viele Teile der Masse zu großzügig mit sozialem Fehlverhalten und nachsichtig. Es ist eine soziale Instanz, die wir in einer undurchsichtigen Welt brauchen. Und ja, das ist wie der Fingerzeig auf andere, die sich so fehlerhaft verhalten haben. Daher ist es echt gefährlich, das so zu verwaschen und vor allem zu monetarisieren - wie es eben passiert, in dem man Mockridge, Nuhr oder Boateng wieder und wieder eine öffentliche Plattform gibt, die dann zur Erheiterung der Masse dient. Klar, kann man jetzt anführen: Die Kunst ist doch frei - oder: Privates ist von deren Job zu trennen.

Jonas: Als normale:r Arbeitnehmer:in sicher. Aber auch als Person des öffentlichen Lebens? Ist man da nicht selbst auch zu einer Marke geworden? Und, versteh‘ mich bitte nicht falsch, ich bin absolut dafür, dass man Menschen nach Fehlverhalten auch die Möglichkeit zur Besserung gibt – zweite Chancen muss es geben – aber trotzdem fände ich Konsequenzen wichtig. Rechtliche, gesellschaftliche und ökonomische. Aber selbst wenn meine linke Twitter-Bubble und ein paar Journalist:innen Samra nicht mehr hören, tuen es immer noch Millionen andere. Und damit verdient er immer noch einen Haufen Geld (vgl. oben: Kapitalismus ist amoralisch) und solange er (wirtschaftlich) erfolgreich ist, ist er auch gesellschaftlich relevant und bekommt oder hat seine eigene Plattform. Ich bin ganz bei dir und glaube wir brauchen eine Kultur der Konsequenzen, aber Cancel Culture erfüllt eben das doch gerade nicht.

Andrea: Ich stimme Dir absolut zu, die Cancel Culture ist noch zu sehr bestimmt von Gesinnungen anstatt von rationaler Urteilsfähigkeit. Klar, wenn einige wenige jemanden canceln, weil er ihren Überzeugungen entgegen steht, dann ist das gut, aber einen weitläufigen Nachhall-Effekt hat sie damit nicht. Sie ist nichts, was sich durch breite Strecken der Bevölkerung zieht. So wichtig es auf der einen Seite ist, dass Cancel Culture gesellschaftlich zunimmt und sich stringent oder konsequent durchzieht, so wichtig ist es meines Erachtens auch, dass wir nicht irrational auf alle losgehen, deren Meinung nicht zu meiner eigenen konform geht. So nach dem Motto: Deine Ansicht passt mir nicht, also lösche ich Dich. Das kann schnell extrem werden. Oder führt dazu, dass jede nur noch in seiner Bubble lebt und von den Meinungen umgeben ist, die ihm taugen. Wir Menschen leben ja auch vom Nachdenken über Positionen oder Haltungen, die nicht deckungsgleich mit unseren eigenen sind. Das nährt uns ja auch geistig, wir lernen zu argumentieren und uns mit der Welt um uns herum auseinanderzusetzen. Ich finde es in einem ersten wichtig, auch wenn es vielleicht eine Form von "washing" ist, dass Medien sich wie in vielen bekannten Fällen von Kabarettisten, Schauspielern, Moderatoren, etc. trennen oder ihnen keine Plattform geben.

Jonas: Vielleicht sollten da wirklich Medien und Plattformen mehr Verantwortung übernehmen (müssen). Natürlich ist das leichter gesagt, als getan – vor allem in Hinsicht auf das Profit-Interesse – aber dieser neoliberale Individualisierungswahn versucht alles auf die Konsument:innen abzuwälzen. Ähnlich wie auch beim Klimawandel haben wir Verbraucher:innen natürlich Macht, durch unsere Konsum-Entscheidungen. Aber als „Player“ kannst Du nur spielen und nicht die Spielregeln des „Game“ beeinflussen. Und wenn sich systemisch nichts daran ändert, wie mit fragwürdigen Personen umgegangen wird, wird sich auch gesamt-gesellschaftlich nichts ändern, denn SO mächtig sind wir User:innen dann auch wiederum nicht.

Ich habe beispielsweise heute noch ein, zwei Songs von Kollegah oder ein paar Michael Jackson-Lieder in meiner Playlist, weil die mir ein schönes nostalgisches Gefühl geben. Und da bin ich auch super inkonsequent (vielleicht sogar egoistisch) und ambig: Manchen Künstler:innen lass ich den ein oder anderen Fehltritt durchgehen und bei anderen kommt sehr schnell der Punkt, bei dem ich das nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren kann, deren Musik zu hören, ihnen zu folgen o. Ä.

Aber Trump ist beispielsweise bei Twitter gesperrt, jetzt kann ich ihm auch nicht mehr ironisch folgen, kopfschüttelnd seine Tweets lesen und ihn damit indirekt dann doch unterstützen. Denn wie viele seiner Follower:innen haben ihm nur „ironisch“ gefolgt?

Andrea: Ich bin da ehrlich gesagt sehr strikt. Und sortiere aus: Meine Freundesliste bei Facebook oder Insta, wenn mir jemand zu nah an Querdenkern dran ist oder einfach Stunk in meinen Augen verbreitet. Oder frisiere meine Playlist, weil ich ein künstlerisches Werk nicht mehr als solches betrachten kann, wenn jemand auf der anderen Seite rassistisch oder diskriminierend ist und daraus nicht mal einen Hehl macht - ich kann das nicht trennen. Wie gesagt, ich halte viel von Meinungsfreiheit und künstlerischer Freiheit - aber mir vergeht komplett die Lust auf irgendeine Kunst von Arschlöchern. Ich verstehe, was Du mit Trump meinst, aber ich könnte ihm nicht mal aus Ironie-Gründen folgen, weil der Brechreiz stärker ist.

Jonas: Das ist hoffentlich unsere gemeinsame Base: Mit Nazis wird nicht diskutiert, marschiert oder sonst irgendwas, die gehören gesamt-gesellschaftlich ausgegrenzt. Die Frage, ob man Werk von Künstler:in trennen kann ist noch mal eine andere. Kevin Spacey ist ein guter Schauspieler und es gibt viele gute Filme mit ihm. Moralisch ist er auf so vielen Ebenen ein verachtenswerter Mensch. Wie geht man aber jetzt mit dieser Mehrdeutigkeit um?

Kunst entsteht ja nicht im luftleeren Raum. Persönliche Sichtweisen, Gefühle, Machtstrukturen, Erlebnisse und Privilegien der:des Künstler:in fließen immer mit ein, bewusst oder unterbewusst, ob man will oder nicht. Gleichzeitig findet Kunst auch immer in der wirtschaftlichen Verwertungslogik statt. Heißt: Das Konsumieren von Kunst führt meist dazu, dass ein Mehrwert für den:die Künstler:in entsteht. Kevin Spacey profitiert davon, dass man seine Filme kauft. Aber nicht unbedingt davon, dass man seine Filme schaut…dass ich seine Filme schaue. Denn das tue ich. Aber immer nur, wenn sie auf einer Streamingplattform zu finden sind oder ich eine alte DVD auf dem Flohmarkt gefunden habe. Einen Film mit ihm würde ich nie kaufen.

Das ist natürlich unfassbar subjektiv. Aber ich komme damit ganz gut klar, da wir eben in dieser kapitalistischen Welt leben, und sich vermutlich so schnell auch nichts daran ändern wird. Wenn Cancel oder Consequential Culture schon nicht die nötigen Konsequenzen herbeiführt und es auch nicht so aussieht, dass sich die Plattformen, entgegen ihren eigenen Profit-Interessen, mehr um das Thema kümmern werden, so sorge ich ganz persönlich zumindest nicht für den wirtschaftlichen Gewinn eines solchen Menschen.

Andrea: Da gehe ich absolut mit. Auf direkterem Wege eine:m Künstler:in vor allem nach Bekanntwerden der Unarten Geld in den Rachen zu werfen und ihn oder sie so zu supporten - das geht gar nicht. Im Fall Spacey finde ich gut, dass die Filmemachenden Konsequenzen ziehen. Denn nur so kann Cancel Culture auch zu einer Consequential Culture werden und weitere Kreise ziehen. Dass eben gefühlte moralische Richtigkeit vor den Scheinchen rangiert. Und Medien nicht nur die Sensationsgeilheit bedienen und dann den Sünder:innen eine Plattform geben, nur weil damit ein Zweispalt oder eine Kontroverse aufgemacht werden kann und das Medium so in aller Munde kursiert und wiederum reich wird durch hohe Einschaltquoten. Also: Bad news are good news. Sondern Konsequenz zu zeigen und damit auch wiederum ein moralischer Kompass zu sein. Darüber zu berichten, dass Nena sich Richtung Querdenkerszene katapultiert. Und so wachsam und aufmerksam zu machen - und die Zahl derer wachsen zu lassen, die eben sagen: Nö, die spinnt doch völlig. Die unterstütze ich nicht. Denn: Popkultur ist Macht und Nenas Organ ist eines, das a) jede:r kennt und b) das daher eine gewisse Strahlkraft hat. Und wenn sich diese publiken Menschen nicht ihrer öffentlichen Rolle gemäß vorbildlich im allgemeinen Sinne verhalten, dann muss man sie durch Maßnahmen ihrer Wirkung wieder bewusst machen. Lehrer:innen dürfen ja auch keine willkürliche persönliche Grütze vermitteln, sondern stehen in sozialer Verantwortung. Verstehst Du, was ich meine?

Jonas: Ich verstehe sehr gut, was du meinst. Vielleicht können wir uns ja darauf ein Stück weit einigen.

Andrea: Jau, lass uns sagen, dass - wenn wir alle das für uns fokussieren und darauf achten, dass wir Hate Speakern im weitesten Sinne keine Plattform geben sollten oder sie gar noch dafür entlohnen, dass sie ihr Zeug verzapfen, dann sind wir doch schon ein ziemliches Stück weiter. Denn das bringt auch wiederum die Medien oder allgemein die Plattformgebenden in Zugzwang. Und dann kann Cancel Culture nicht nur ein schicker Begriff sein.

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