Im Alltag nicht machbar
"Allein gelassen": Bayerns Lehrer halten Inklusion an Schulen für gescheitert
30.5.2022, 18:00 UhrDie schulische Inklusion droht nach Auffassung des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) zu scheitern. Das Ziel, Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam erfolgreich an Regelschulen zu unterrichten halten 97 Prozent der Lehrer nach einer Umfrage des BLLV unter derzeitigen Bedingungen nicht für realisierbar. An der Umfrage beteiligten sich 695 Lehrer überwiegend aus Grundschulen. Sie fühlen sich bei der Aufgabe allein gelassen, fasste BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann am Montag in München zusammen.
Die schulische Inklusion drohe zu scheitern, sagte Fritz Schäffer, Leiter der BLLV-Abteilung Schul- und Bildungspolitik. Grund sei, dass der Staat von Schulen und Lehrern im Grunde "Inklusion zum Nulltarif" verlange. Die Umfrage ergab, dass 85 Prozent der Klassen, in denen auch Kinder "mit sonderpädagogischem Förderbedarf" sitzen, genau so groß geblieben sind wie zuvor. Sieben Prozent der Klassen mit solchen Kindern sollen jetzt sogar größer als vorher sein. Für Kinder mit sonderpädagogischen Bedarf, die eine Förderschule besuchen, werde etwa das Doppelte aufgewendet als für die, welche an einer Grund- oder Mittelschule inklusiv unterrichtet werden. Diese Differenz, so Schäffer, könne man als "unfreiwillige Spende" der Lehrer an den Staat betrachten.
"Auf dem Papier" gebe es eine ganze Reihe von Unterstützungsangeboten in Gestalt von Sozialpädagogen, Sozialarbeitern und des "Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes", die jedoch in der Wirklichkeit nicht oder in nicht ausreichendem Maße zur Verfügung stehen, folgert der BLLV aus den Reaktionen der befragten Pädagogen. "Auf dem Papier gibt es alles, aber nicht im Alltag", so Schäffer.
Überwiegend müssten sich die Lehrer bei der Unterrichtung von Kindern mit Förderbedarf der Hilfe von Kollegen (59 Prozent), der Schulleitung (62 Prozent) oder der Beratungslehrkraft (39 Prozent) bedienen, während nur 16 Prozent die Unterstützung durch Schulamt, Regierung oder Kultusministerium als hilfreich empfanden. Das entsprechende Fortbildungsangebot beurteilten drei Viertel der Befragten negativ. Zur Bewertung "sehr gut" fand sich keine einzige Lehrkraft bereit.
Doch nicht alle gleich?
Aus der Sicht des Lehrerverbands könnten pädagogisch ausgebildete Schulbegleiter ein wichtiger Teil der Lösung sein. Die Schulbegleiter gibt es schon jetzt, sie haben aber nur die Aufgabe, die "Schulbesuchsfähigkeit sicherzustellen" (Schäffer). BLLV-Präsidentin Fleischmann plädierte für eine "Neukonzeption der Schulbegleitung". Die Zuständigkeit für die Schulbegleitung müsse vom Sozial- ans Kultusministerium verlagert und die Begleiter zur "sonderpädagogischen Inklusionsassistenz" ausgebildet werden. Den derzeitigen Begleitern mangele es an einer qualifizierten Ausbildung, an angemessener Bezahlung und einem arbeitsrechtlichen Status. Sie bildeten "eine Ressource, die zu wenig genutzt wird".
An den Regelschulen, an denen heute der Großteil der Inklusion stattfinde, kämen zudem kaum die für diese Aufgabe versprochenen zusätzlichen Stunden an. Bei Budgetierung und Zuweisung von Lehrerstunden müssten Kinder mit Förderbedarf dreifach gezählt werden, fordert der BLLV. In einer gelungenen schulischen Inklusion sieht BLLV-Präsidentin Fleischmann eine Chance für die ganze Gesellschaft. Anderenfalls machten die Kinder die Erfahrung, dass Inklusion nicht normal und doch nicht alle Kinder gleich seien.
Die schulische Inklusion ist beileibe kein Thema von Wenigen. 2021 wurden nach Angaben des BLLV 25.000 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen des Freistaats unterrichtet. Wie sich aus der Antwort auf eine Anfrage der SPD-Bildungspolitikerin Margit Wild ergab, steigt die Gesamtzahl der Kinder, denen Beeinträchtigungen in den Bereichen Hören, Sehen, Motorik, Lernen, Geistige Entwicklung, Sprache und Verhalten attestiert wird, ständig. An Förderzentren und Schulen mit dem Schulprofil Inklusion, an denen diese Schüler zum weitaus größeren Teil unterrichtet werden, registrierte man vom Schuljahr 2916/2017 auf 2018/2019 einen Zuwachs von über 20 Prozent auf 75.536. Wild nannte diese Zahlen "alarmierend".
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