Historisches Anwesen in Nürnberger Südstadt

Oberbayerisch wohnen mitten in Franken: Die wundersame Reise des "Inntaler Hauses"

Sebastian Gulden

26.7.2023, 11:00 Uhr
Auf dieser Ansichtskarte, die das Inntaler Haus am ursprünglichen Standort im Luitpoldhain 1906 zeigt, erkennt man: Da fehlt was! Denn das Gebäude hatte nie einen Stallteil.  

© Ansichtskarte Photographische Gesellschaft Rosenheim-München (Sammlung Sebastian Gulden) Auf dieser Ansichtskarte, die das Inntaler Haus am ursprünglichen Standort im Luitpoldhain 1906 zeigt, erkennt man: Da fehlt was! Denn das Gebäude hatte nie einen Stallteil.  

O mein Gott! Ein oberbayerisches Bauernhaus mitten in Nürnberg! Und dann auch noch so schön proportioniert, so authentisch. Ist das Haus in der Allersberger Straße 177 ein Exzess des unseligen "Jodlerstils" der 1960er und 1970er Jahre – oder doch ein Original aus dem Lande der altbairischen "Besatzer"?

Wie aus einem Heimatfilm entsprungen

Für den aufmerksamen Passanten muss es wie eine Fata Morgana erscheinen, das Haus an der Ecke Tristan- und Nornenstraße am Rande des Nürnberger Nibelungenviertels. Da steht es ganz selbstbewusst, mit seiner breiten Front mit massiv gemauertem, verputztem und weiß gestrichenem Erdgeschoss und Standerkern an den Stuben, dem ochsenblutrot gestrichenen Ober- und Dachgeschoss in Blockbauweise, mit seinen Schroten, also Lauben, mit fröhlich gedrehten Säulen und Brettbalustern, dem weit überstehenden, flachen Satteldach mit kunstvoll geschnitzten Stirn- und Pfettenbretterln.

Heute steht das Inntaler Haus zwischen Tristan- und Nornenstraße.  

Heute steht das Inntaler Haus zwischen Tristan- und Nornenstraße.   © Hans-Joachim Winckler

Neben dem roten Anstrich der Holzteile wurden auch einige andere Elemente verändert.

Neben dem roten Anstrich der Holzteile wurden auch einige andere Elemente verändert. © Hans-Joachim Winckler

Das Gebäude tut so, als gehöre es schon immer in das noble Villenquartier am Rande der Nürnberger Südstadt.

Allzu leicht ist man versucht, seine ortsfremde Architektur dem exzentrischen Geschmack eines ebenso sorglosen wie geldigen Häuslebauers in die Schuhe zu schieben, der sich das Alpenlandidyll aus seinem Lieblings-Heimatfilm ins Pegnitztal holen wollte.

Zuerst war es ein Ausstellungsmodell im Luitpoldhain

Allein, die Geschichte hinter dem Haus ist viel komplexer. Zwar trifft es zu, dass der Nürnberger Petroleum- und Altmetallhändler Moritz Karl Wilhelm Sulzer (1865–1934) dem alpinen Charme des Hauses erlag, als er es 1906 auf der Bayerischen Jubiläums-Ausstellung im Luitpoldhain besichtigte. Doch mit banalem "Jodlerstil" (Dieter Wieland) hat dieses Meisterwerk nun weiß Gott nichts zu tun. Vielmehr zitieren seine Formen einen Haustypus, wie er im Chiemgau, dem Inntal und dem benachbarten Voralpenland seit dem 16. Jahrhundert verbreitet war und noch heute ist.

Der Verlag Zerreiss & Co. war geschickter und ließ den Bau frontal aufnehmen. Wäre die Beschriftung nicht, man wüsste nicht, ob man in Nürnberg oder im Chiemgau ist.  

Der Verlag Zerreiss & Co. war geschickter und ließ den Bau frontal aufnehmen. Wäre die Beschriftung nicht, man wüsste nicht, ob man in Nürnberg oder im Chiemgau ist.   © Ansichtskarte: Zerreiss & Co. (Sammlung Sebastian Gulden)

Der Allgemeine Gewerbeverein Rosenheim hatte das Haus durch die örtliche Bauunternehmung Otto Steinbeis & Co. errichten lassen, um darin Erzeugnisse regionaler Industrie- und Handwerksbetriebe zu präsentieren. Es war auch nicht das einzige Bauernhaus auf der Schau: Auch das Werdenfelser Land, das Allgäu und der Spessart waren mit Ausstellungsgebäuden in den typischen Formen der dortigen traditionellen ländlichen Bauweise vertreten.

Schöpfer unseres Inntaler Hauses und seiner Inneneinrichtung war der Münchener Architekt Otto Heinrich Riemerschmid (1872–1924), Cousin des ungleich berühmteren Jugendstilkünstlers Richard Riemerschmid und ausgewiesener Experte für den Entwurf von Mietspalästen, Villen und Landhäusern.

Architektur mit einer Mission

Anders als der Stuttgarter Architekt André Lambert in seinem Bericht über die Ausstellung schrieb, waren die Bauernhäuser weit mehr als "nur Nachahmungen von historisch interessanten Bauformen". Riemerschmid und seine Mitstreiter – darunter Friedrich von Thiersch und Theodor Fischer – sahen sie vielmehr als einen Aufruf, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer stärker im Schwinden begriffenen traditionellen ländlichen Bauformen zu neuem Leben zu erwecken. Darin spiegelt sich das um 1900 aufflammende Interesse für die Belange des Naturschutzes, des traditionellen und ökologischen Bauens und der Brauchtumspflege wider, wie es insbesondere der "Bayerische Landesverein für Heimatschutz" vertrat.

Auch wenn das Werdenfelser, das Allgäuer und das Spessarthaus nach Ende der Ausstellung abgerissen wurden, blieb der zündende Gedanke doch haften. Die Zeit um 1906, sie war die Geburtsstunde der so genannten "Heimatschutzarchitektur", die die funktionale Planung des Jugend- und Reformstils mit Formen ländlicher Architektur zu verbinden wusste.

Bei der Hauptzielgruppe, den bayerischen Bauern, fand sie indes weniger Anklang. Vor allem die reichen Städter waren es, die sich, inspiriert von den Entwürfen Riemerschmids und seiner Kollegen, ihre Landhäuser am Würm-, am Ammer- und am Tegernsee im Stil der alten Bauernhäuser errichten ließen.

Bomben verschonten den Wohnteil

Das Inntaler Haus durfte weiterleben: Moritz Sulzer ließ es von Architekt Karl Schultheiß auf seinen Grund an der Allersberger Straße umsetzen. An Stelle eines rückwärtigen Stallteils ließ er einen massiven Anbau errichten und das Satteldach entsprechend erweitern.

Wer den Bau heute von der Nornenstraße aus betrachtet, mag denken: "Na ja, hübsch sieht anders aus!" Dies ist allerdings nicht Sulzer und Schultheiß zuzuschreiben, sondern – mal wieder – den britischen Bomben und Luftminen des Zweiten Weltkriegs. Die trafen gottlob nur die östliche Partie des Hauses und verschonten Riemerschmids wertvollen Wohnteil.

Der architektonische Bayer in Franken ist auch heute noch in gewisser Weise ein Fremder, aber ein äußerst liebenswerter. Er ist beredtes Zeugnis für die Kunstfertigkeit der Baumeister der vorletzten Jahrhundertwende, für die Sehnsucht nach der "guten, alten Zeit" und nach einem Stück Voralpenidyll inmitten der fränkischen Großstadt.

Diese Serie lädt zum Mitmachen ein. Haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus Nürnberg und der Region? Dann schicken Sie sie uns bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Nachrichten/Nürnberger Zeitung, Lokalredaktion, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: redaktion-nuernberg@vnp.de

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